Die Grenzgänger – Kinzo

KAP Magazin #6
Kinzo
Die Grenzgänger

Kinzo
Die Grenzgänger
Aus dem KAP Magazin #6

Kinzo bespielt die unterschiedlichsten Räume stets mit dem gleichen Anspruch: Architektur und Ausstattung sollen verschmelzen.

Der Aufstieg war rasant: Von der Insideradresse ist das angesagte Berliner Design- und Architekturbüro in kurzer Zeit zum mehrfach preisgekrönten Aushängeschild der Designszene avanciert. Vor wenigen Wochen erst konnten die Macher Karim El-Ishmawi (37), Martin Jacobs (39) und Chris Middleton (36) – kurz JIM genannt – den bisherigen Höhepunkt ihrer kreativen Karriere feiern: In Herzogenaurach eröffnete der Sportartikelhersteller Adidas einen neuen Bürokomplex. Der über sieben Stockwerke hohe, mit viel Glas, in Grau und Weiß gehaltene Bau erinnert aus der Vogelperspektive an einen geschnürten Sportschuh und hat eine Gesamtfläche von fast 62.000 Quadratmeter – so viel wie acht Fußballplätze. Und Kinzo hat ihn maßgeschneidert eingerichtet.

»Das ist unser bislang größter Auftrag«, freut sich Chris Middleton. Zum ersten Mal konnten die Berliner in diesem Neubau mit ihren Interior-Ideen von Anfang an auf die Architektur der Räume eingehen. Sie tauchten ein in die Bürowelt, in die Prozesse und Abläufe des Unternehmens, forschten im Studio und experimentierten in der Werkstatt für ein Maximum an Identität und Erlebnis ihrer Produkte.

»Wir machen Design im Raum. Das heißt: Design hat dann einen Sinn, wenn die Leitidee bis ins Detail ausgearbeitet ist. Beispielsweise die Adidas-Bürowelt in den Möbeln ablesbar ist. Der Bereich der Architektur verschwimmt bei uns mit dem Bereich der Möbel«, erklärt Middleton. Kinzo denkt szenografisch, nutzt die Schnittstellen zur Architektur. Design ist demnach kein Programm, sondern ein Zustand, den Raum und Funktion erreichen müssen, um besser zu sein als andere.

»Wenn wir gestalten, ist alles aus einem Guss – das fängt bei den Papierkörben an und endet bei den Raumteilern, auch »Teamplayer« genannt. Anders als Hersteller, die in Serie produzieren, passt sich Kinzo wie ein Chamäleon mit seinem Produkt- und Möbeldesign dem Raum an. »Wir inszenieren Orte ganzheitlich, das macht Architektur und Möbel lebendig.«

»Wir inszenieren Orte ganzheitlich, das macht Architektur und Möbel lebendig.«

Mit seinem mehrfach ausgezeichneten futuristischen Gestaltungsansatz ist das 1998 gegründete Büro zu einem begehrten Designbüro aufgestiegen – auch für Kunden wie Tishman Speyer, Axel Springer, Audi, L’Oréal, Ernst & Young und eben Adidas. Kinzo-Design überrascht. So ist die Funktion nicht auf den ersten Blick erkennbar, die Objekte wirken wie multifunktionale Skulpturen. Eine der erfolgreichsten ist der mit dem red dot award 2008 ausgezeichnete Kinzo Air-Schreibtisch. Er hat das Zeug zum DesignKlassiker: Schrägen, gekippte Flächen, und scheinbar »schwebende« Bauteile verleihen der Gestaltung eine dynamische Leichtigkeit – eine spacige Aura.

Den Berlinern geht es bei ihren Entwürfen aber nicht nur um Haptik und Optik, sondern um nachhaltige Lösungen für die heute so technisierte Welt. Unternehmen sind nach ihrer Ansicht gut beraten, wenn sie in Arbeitsräume und -plätze investieren, den Büroalltag komfortabler, inspirierend, intelligent gestalten und Erlebniswelten schaffen.

Kinzo liefert mit seinen Ideen jedoch mehr als nur optimale Raumnutzung: Die Objekte erfüllen sämtliche Anforderungen an moderne Büro- und Konferenzmöbel. So schluckt beispielsweise beim Kinzo Air in der Mitte der Tischplatte eine großzügig dimensionierte, offene Rinne den unschönen Kabelsalat. Die zu kleinen und unpraktischen Klappen und Deckel, in denen bei herkömmlichen Bürosystemen Kabel und Stecker Platz finden sollen, verschwinden in einem Einzelschreibtisch, dessen Seitenteile in Origami-Art nach innen gefaltet sind. So lässt er sich an die Doppelarbeitstische heran schieben und zu kompakten Dreiergruppen kombinieren.

Der Dreiklang von Raum, Form und Funktion zieht sich von Anfang durch alle Projekte. Kinzo hat so seine Nische gefunden und spielt stets einen besonderen Trumpf aus: Martin Jacobs, Projekt-Direktor, schloss bereits vor seinem Architekturstudium die Prüfung zum Tischlermeister ab. »Auf diese Weise haben wir schon in der Entwurfsphase die praktische Umsetzung und die Kosten der Fertigung im Blickfeld«, betont El-Ishmawi.

Der Kinzo Air, im Auftrag vom Axel Springer Verlag für dessen Redaktionen entworfen, war der erste Ausflug, den das Trio ins Produktdesign gewagt hat. Denn gestartet sind die Architekten, die seit dem Grundstudium zusammenarbeiten, mit aufsehenerregender »Guerilla-Architektur«. Die spektakulärste, so Chris Middleton, war der Umbau einer ungenutzten Fußgängerunterführung am Alexanderplatz. Der öffentliche Raum verwandelte sich in eine Bar, die vorhandenen Rolltreppen wurden zu Laufstegen für die Besucher. »Wir haben Lücken für unsere Underground-Events gesucht, und die Brachflächen, alles Orte aus einer anderen Zeit, temporär neu belebt.«

Kinzo schafft neue, futuristisch anmutende Erlebniswelten, bespielt die unterschiedlichsten Räume stets mit dem gleichen Anspruch: Architektur und Ausstattung sollen ganzheitlich wirken. Das gilt auch für die Bühnenbilder für die Eröffnungsfeiern des weltweit bedeutendsten Technologieereignisses – der »Hannover Messe«, für die renommierte »CeBIT« und erstmalig im September für das Opening der »Internationalen Funkausstellung« in Berlin.

Seit 1998 steht das Berliner Büro, das in einem Plattenbau mit 3.000 Quadratmetern Dachterrasse am Alexanderplatz residiert, für interdisziplinäre Lösungen, außergewöhnliche DesignKonzepte und Service vom ersten Entwurf bis zur Abnahme. Die Kompetenz liegt auf der Schnittstelle von Konzeption und Umsetzung. Aus der Architektur kommend, ist die Herangehensweise von Kinzo konzeptioneller als die reiner »Umsetzer« wie MessebauFirmen, aber auch pragmatischer und stärker auf das Endprodukt gerichtet als die Praxis von Kommunikationsoder Eventagenturen.

Das so erfolgreiche Trio ist ein eingeschworenes Team, zu dritt segnen sie alle Projekte ab. Kinzo ist eben ein Gesamtkunstwerk. Woher kommt eigentlich der Name? »Er ist ein japanischer Vorname, der progressiv-futuristisch anmutet«, sagt Middleton. »Vor 15 Jahren haben wir unser Logo entworfen und es genreübergreifend auf all unsere Produkte geklebt.« Kinzo, das Label, signalisiert Mystisch-Geheimnisvolles wie von einem anderen Design-Stern.

»Vor 15 Jahren haben wir unser Logo entworfen und es genreübergreifend auf all unsere Produkte geklebt.«

10 Fragen an Karim El-Ishmawi, Martin Jacobs, Chris Middleton:

1. Wann haben Sie Ihr Büro gegründet und was war die größte Herausforderung dabei?

Unser Büro für Design und Architektur haben wir 2003 gegründet, das Label Kinzo haben wir aber schon 1998 für Eventdesign, Kurzfilme, imaginäre Werbekampagnen, einen Nachtklub und andere gestalterische Projekte ins Leben gerufen. Das Logo diente uns als Signatur und fasste die interdisziplinären Projekte zusammen. Die größte Herausforderung war, gleichzeitig einen Nachtklub und ein Designbüro zu führen.

2. Welche Vorbilder hatten/haben Sie?

Wir haben viele Vorbilder, deren Œuvre uns inspiriert. Darunter sind Filmarchitekten wie Ken Adam, Architekten wie Oscar Niemeyer oder Designer wie Dieter Rams, um nur einige zu nennen. Unsere Vorliebe gilt radikalvisionären Ansätzen mit emotionalem Wert und formaler Ästhetik.

3. Was ist die Kernphilosophie Ihres Büros?

Unsere Kernphilosophie lautet: Aufhebung der Grenzen zwischen Architektur und Design! Ganzheitliche Gestaltung in 2-D, 3-D und 4-D – unabhängig vom Maßstab.

4. Was wollen Sie anders machen als die anderen?

Wir wollen ein wenig mehr Utopie wagen. Und so die Zukunft aktiv mitgestalten.

5. Welche Anerkennung hat Sie gefreut – warum?

Der Deutsche Bauforschungsnachwuchspreis für eine von uns gestaltete Zukunftsvision für Berlin im Jahr 2046 hat uns sehr überrascht. Die Vision wurde in Form eines satirischen Films mit diversen Designansätzen für Produkte, Architektur und Städtebau präsentiert.

6. Was tun Sie in Sachen Eigen-PR?

Wir bleiben im Gespräch.

7. Warum lohnt es sich, trotz immer schmaler werdender Budgets im Bereich Bauen tätig zu sein?

Beim Bauen sieht man die virtuellen Entwurfsgedanken in die Tat umgesetzt. Das hat etwas Erhabenes.

8. Was sind Ihre drei wichtigsten Bauten?

Ein Raumschiff-Büro für eine digitale Medientochter der Axel Springer AG, die abstrahierte Banlieue-Architektur für einen begehbaren digitalen Parcours auf der Bühne der CeBIT-Eröffnung 2008 und die kleine, aber feine Modeboutique Maygreen in Hamburg Ottensen kann man gut als repräsentative Projekte sehen.

9. Wie sieht Ihr Traumauftrag aus?

Egal ob es sich um die Stadt der Zukunft, das kleine Haus am See oder den Arbeitsplatz von morgen handelt: Eine ganzheitliche Gestaltung vom Innenraum zum Außenraum, vom Produkt zur Architektur bis hin zum städtischen bzw. landschaftlichen Umfeld ist uns wichtig.

10. Wie würden Sie durch Ihre Arbeit das Umfeld in Städten verbessern wollen?

Wir sind für Nutzungsund Funktionsüberlagerung, dadurch entstehen spannende Bezüge und offene Kommunikation, die wir in neuartig skulpturalen Objekten zusammenführen. Wir möchten mit unseren Projekten ästhetische Höhepunkte schaffen, die das Leben lebenswerter machen.

von Dagmar Haas-Pilwat

Kinzo
Karl-Liebknecht-Str. 13
10178 Berlin
T +49 30 97 00 48 20
F +49 30 97 00 48 21
info@kinzo-berlin.de
kinzo-berlin.de

Abbildungen:
Kinzo Air 2008
Hannover Messe
Eröffnungsveranstaltung 2011

Die Konstrukteure – LAVA Europe

Die Konstrukteure – LAVA Europe

Inspiriert von Natur und Technik findet das Architekturbüro Lava einfache Lösungen für komplizierte Vorgänge.

Das Beste aus Natur und Technik zu ver­einen, zieht sich als roter Faden durch die Arbeiten des Büros. Aus allen Richtungen gehen Passanten über den Platz, manche eiligen Schrittes, andere schlendern. Grüppchen setzen sich auf Treppenstufen. Rund um ein Geländer feilen Skater an ihren Tricks. Ein gewohntes Bild auf europäischen Plätzen. Aber in der Wüste, bei 55 Grad Celsius Außentemperatur und praller Sonne?

Es ist ein ehrgeiziges Projekt, das sich Abu Dhabi, eines der Vereinigten Arabischen Emirate, mit der Wüstenstadt Masdar City vorgenommen hat. Die von Norman Fosters Architekturbüro geplante Siedlung könnte die erste emissionsfreie Stadt der Welt werden. Die Sonne wird die nötige Energie liefern und auf den engen Straßen der auf kompaktem, rechteckigem Grundriss errichteten City dürfen keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor fahren. Als Mittelpunkt von Masdar City war ein Kongresszentrum vorgesehen, für welches ein Wettbewerb ausgeschrieben wurde. Doch dem Architekturbüro LAVA gelang es, mit einem etwas anderen Entwurf den Wettbewerb zu gewinnen. »Das Zentrum einer Stadt muss ein öffentlicher Ort sein«, erläutert Tobias Wallisser von LAVA. Es fanden sich genug Argumente, um in der Stadtmitte nicht das Kongresszentrum, sondern einen öffentlichen Platz zu planen. Doch Plätze befinden sich traditionell unter freiem Himmel, angesichts der Wüstenhitze ist das aber undenkbar. Eine Überdachung war unumgänglich. Das LAVA-Team fand eine Lösung, die wie die Säulenhallen der griechischen Antike, Schutz vor Sonne und Hitze bietet, gleichzeitig aber das Gefühl vermittelt, sich im Freien zu befinden. Trichterförmige Schirme sollen dem Masdar City Square Schatten spenden und gleichzeitig an ihrer Oberseite Sonnenenergie sammeln, um den darunterliegenden Platz zu kühlen. Nachts öffnen sich die Schirme, lassen die warme Luft des Tages entweichen und geben den Blick auf den Sternenhimmel frei. Ein filmreifes Szenario.

Der Name LAVA – eine Abkürzung für Laboratory for Visionary Architecture – ist Programm. Das Büro steht für eine Architektur, die mit einfachen Mitteln viel erreicht. Um effektive Lösungen zu finden, verfolgen die Architekten einen bionischen Ansatz. Sie lassen sich von der Natur inspirieren und versuchen, Strategien, die sich im Laufe der Evolution als erfolgreich erwiesen haben, auf technische Probleme zu übertragen. Durch einen engen Kontakt zum Fraunhofer-Institut können sie außerdem neueste technische Entwicklungen in ihre Projekte einfließen lassen. Die Zielsetzung umfasst dabei neben einem durchdachten, auf die Bedürfnisse der Nutzer zugeschnittenen Gebäude immer auch die Energieeffizienz und Umweltfreundlichkeit. »Die Vorstellung, dass Nachhaltigkeit teuer ist, ist falsch«, erklärt Alexander Rieck, einer der drei Partner. Ganz im Gegenteil lasse sich schon durch einfache Maßnahmen langfristig Geld einsparen. Das Thema Nachhaltigkeit war den drei Partnern schon im Gründungsjahr wichtig.

Chris Bosse, Tobias Wallisser und Alexander Rieck gründeten LAVA im Jahr 2007. Alle drei hatten schon zuvor an hochrangigen Projekten gearbeitet. So entwarf Chris Bosse bei PTW Architects den sogenannten »Water Cube«, das Schwimmstadion der olympischen Sommerspiele von Peking, das als kleiner Bruder neben Herzog & de Meurons »Vogelnest« steht. Tobias Wallisser war in Ben van Berkels Architekturbüro UNStudio für den Entwurf des Mercedes-Benz Museums in Stuttgart verantwortlich und Alexander Rieck leitete für das Fraunhofer-Institut mehrere Projekte des Forschungsprogramms Office 21, das sich mit dem Wandel und der Optimierung von Büroarbeitsprozessen beschäftigt. LAVA ist heute von Büros in Stuttgart und Sydney aus an Projekten in der ganzen Welt tätig.

»Das Beste aus Natur und Technik zu vereinen, zieht sich als roter Faden durch die Arbeiten des Büros.«

Dabei das Beste aus Natur und Technik zu vereinen, zieht sich als roter Faden durch die Arbeiten des Büros. Beliebt ist zum Beispiel die Verwendung von Membranen als Baumaterial. Dadurch ergeben sich nicht nur konstruktive Vorteile, die Membranen verleihen den Gebäuden mit ihrer leichten Materialität auch eine ganz eigene Ästhetik. Wie das konkret aussehen kann, erläutert Chris Bosse anhand des »Broadway Towers« der University of Technology, Sydney – kurz UTS-Tower. Dieses 1979 fertiggestellte Gebäude werde den heutigen Standards in Energieeffizienz und Benutzungskomfort nicht mehr gerecht, es sei »ein verschlossener Kasten mit Klimaanlage«, der nicht viel Licht oder Luft hereinlasse. Auch für das Stadtbild sei es keine Zierde, bei Sydneys Bevölkerung gelte es als hässlichstes Gebäude. Anstatt den UTS-Tower abzureißen, schlagen die LAVA-Architekten ein Re-Skinning vor. Das gesamte Gebäude soll mit einer Membran verkleidet werden, die über ein an der Fassade angebrachtes Metallgerüst gespannt werden soll. Diese Membran würde es erlauben, das Gebäude mit Tageslicht zu versorgen, ohne dass Mitarbeiter in den Büros geblendet werden oder sich die Räume zu stark aufheizen. Die verspiegelten Fenster könnten durch klare ersetzt werden, und indem man eine natürliche Belüftung ermöglicht, ist die Klimaanlage verzichtbar. Gleichzeitig sammelt die Membran Regenwasser und könnte mit integrierten Solarzellen Elektrizität erzeugen. Auch äußerlich würde das Re-Skinning den UTS-Tower verändern. Seine schwere Anmutung, die durch die Betonung der Horizontalen und die Verwendung von rohem Beton entsteht, würde einer optischen Leichtigkeit durch die halbtransparente Membran weichen.

Mit diesen durchdachten, nachhaltigen und optisch ansprechenden Gebäuden möchte LAVA einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Architektur ist für die drei Gründer nicht, den größtmöglichen Ertrag aus einer Fläche zu holen, sondern den Benutzer in den Mittelpunkt stellen. Ihr Credo: »Indem wir innovative technische Lösungen in starke Raumstrukturen integrieren, erzeugen wir neue Aufenthalts- und Erlebnisqualitäten für den Menschen.«

10 Fragen an Tobias Wallisser, Alexander Rieck, Chris Bosse:

1. Wann haben Sie Ihr Büro gegründet und was war die größte Herausforderung dabei?

Wir haben unser Büro 2007 mit einem Megaprojekt gegründet. Eine Herausforderung war es, gleichzeitig an zwei Standorten ein Büro aufzubauen und parallel an einem dritten Standort – in einem dritten Kontinent – bereits Unterlagen für ein Projekt im Eiltempo zu liefern. Das Projekt war ein mit Solarenergie betriebenes Skiressort auf dem Jebel-Hafeet-Bergmassiv in Abu Dhabi.

2. Welche Vorbilder hatten/haben Sie?

Die Natur ist unser größtes Vorbild für Einfallsreichtum, Schönheit und Vielfalt, Komplexität, aber einfachen Regeln. Was Architektur angeht, fasziniert uns das Zusammenspiel von besonderer Ästhetik und Technologie, wie es zum Beispiel bei Leonardo da Vinci oder Frei Otto zu sehen ist.

3. Was ist die Kernphilosophie Ihres Büros?

LAVA entwickelt die Architektur für die Gesellschaft von morgen. In enger Abstimmung mit der Forschung arbeiten wir an der räumlichen Umsetzung von Trends und Technologien der Zukunft und versuchen, diese Erkenntnisse für die Architektur zu nutzen. Dies gilt dabei sowohl für die Anforderungen und Integration künftiger Nutzungsprozesse als auch für die Bautechnologien und die Planung, wie der Einsatz parametrisch basierter Planungssysteme und computerbasierter Entwurfstechniken. Die Frage ist nicht mehr, wie etwas funktioniert, sondern wie wir mehr mit weniger erreichen, also Ressourcenoptimierung, Nutzerkomfort und räumliche Qualität vereinen können.

4. Was wollen Sie anders machen als die anderen?

Bei unserer Arbeit schauen wir wenig nach dem, was andere machen. Wir haben gelernt, uns zunächst auf unsere eigenen Stärken zu konzentrieren und dann nach dem zu sehen, was andere machen. LAVA ist ein Thinktank internationaler Kollaborationen, mit Spezialisten aus Design, Technologie und Naturwissenschaften. Wichtig ist uns, aus unseren – mitunter durchaus unterschiedlichen – Erfahrungen und Interessen überraschende, aber auch überzeugende Lösungsansätze zu bieten. Anstelle von Rezepten geht es uns um projektbezogene Forschung.

5. Welche Anerkennung hat Sie gefreut – warum?

Uns freut jede Form der Anerkennung. Ein aufrichtiges Lob von einem Unbekannten ist besser als ein »politisch« motivierter Preis.

6. Was tun Sie in Sachen Eigen-PR?

Möglichst authentisch sein. Nicht alles nach außen tragen – und trotzdem im Gespräch bleiben.

7. Warum lohnt es sich, trotz immer schmaler werdender Budgets im Bereich Bauen tätig zu sein?

Global gesehen stehen wir vor dem größten Bauvolumen seit Menschengedenken. Innerhalb der kommenden 20 Jahre brauchen zwei Milliarden Menschen ein Dach über dem Kopf, vor allem in Städten. Und selbst in Europa, wo unsere Städte größtenteils schon gebaut sind, werden viele notwendige Umbauarbeiten notwendig werden, um die Ressourcen-Einsparungsziele zu erreichen. Bauen ist eine Grundaufgabe. Einen Beitrag leisten zu können, die Möglichkeiten weiterzuentwickeln, ist ein großer Antrieb.

8. Was sind Ihre drei wichtigsten Bauten?

Sowohl Chris als auch Tobias haben bereits vor der Bürogründung an weltweit bekannten Gebäuden gearbeitet und erlebt, was die Fertigstellung eines Projekts, an dem man fünf Jahre arbeitet, heißt. Das war eine wichtige Erfahrung, die aber den Bezug auf einzelne Bauten relativiert. Für uns als Team war als Gruppenbildung unser erstes Projekt wichtig, das aber nicht gebaut wurde. Für die Entwicklung der Umsetzung eines Zukunftsszenarios war das »Future Hotel« der Prototyp. Und auf städtebaulichem Maßstab wird unser Projekt für das Stadtzentrum von Masdar City, der ersten CO2-freien Stadt, geplant von Foster für Abu Dhabi, ein Durchbruch für uns werden. Derzeit arbeiten wir an einem Masterplan für eine Universität in Saudi Arabien, ein Projekt, das sicher auch wichtig werden wird …

9. Wie sieht Ihr Traumauftrag aus?

Das Schöne ist, dass wir bereits jetzt täglich an unseren Traumprojekten arbeiten können. Unterschiedliche Maßstäbe, Bauaufgaben und kultureller Kontext machen jedes Projekt einzigartig. Wenn wir es schaffen, ein Projekt so zu bearbeiten, dass wir neues Wissen generieren und einen Beitrag für die Entwicklung der Architektur leisten können, dann können wir das als Traumprojekt bezeichnen.

10. Wie würden Sie durch Ihre Arbeit das Umfeld in Städten verbessern wollen?

Die Städte der Zukunft werden sich fundamental von den heutigen unterscheiden. Wir erstellen dazu gerade verschiedene Studien in Zusammenarbeit mit Forschern. Die Integration von Kommunikationstechnologie wird räumliche und zeitliche Muster in den Städten verändern. Es bieten sich neue Chancen für die Entwicklung gemeinschaftlich genutzter Räume. Derzeit arbeiten wir an konkreten Planungen in Arabien und China, bei denen diese Ideen getestet werden.

Von Felix Feldhofer

LAVA Europe
Heilbronner Straße 7
70174 Stuttgart
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l-a-v-a.net

Abbildung:
Masdar City Square Masdar, Abu Dhabi 2016

Die Teamplayer – AllesWirdGut

Die Teamplayer – AllesWirdGut

Die Teamplayer – AllesWirdGut

Die vier Wiener Archi­tekten von AllesWirdGut besitzen die seltene Gabe, das Spektakuläre ganz selbstverständlich erscheinen zu lassen. Damit stellen sie moderne Architektur auf eine neue Basis.

Nina Ruge ist schuld. Sie lieferte den schillernden Namen des Wiener Architekturbüros AllesWirdGut. Ruges Abmoderation der RTL-Nachrichten wurde bei Andreas Marth, Christian Waldner, Friedrich Passler und Herwig Spiegl zum geflügelten Wort. »Nach all den Horrorgeschichten hat sie uns diese schöne Nachricht geschickt«, erinnert sich Spiegl. Damals steckten sie in der Endphase eines ihrer ersten Projekte und neckten sich am Ende jeder Mail mit dem Spruch. Als sie bei der Abgabe des Wettbewerbs noch immer keinen Büronamen hatten, tauchte »AllesWirdGut« auf, ganz spontan. »Wir waren uns des Potentials nicht mal bewusst«, behauptet Spiegl. Heute kann man für diesen Marketing-Coup gratulieren.

So ist es eben bei AllesWirdGut, vieles klingt leicht und lässig, hat aber außerordentlichen Tiefgang. Ihre Architektur probt das Monumentale und weist doch alles Schwere von sich. Wie man mit einem UNESCO-Weltkulturerbe umgeht, dem Skulpturenpark und Festspielgelände im Römersteinbruch St. Margarethen, bewiesen sie im September 2005. Statt sich an der gewaltigen Kulisse abzuarbeiten, nahmen sie den Ort auf, seine Energie, und akzentuierten die Mega-Skulptur mit messerscharfen Schnitten aus Cortenstahl-Rampen und Stegen. Zuschauertribüne, Eingangsund Cateringbereich sowie Foyerpark wirken so, als stünden sie schon immer da. Ihre eigene Arbeit sahen sie ganz bescheiden als »als Fortführung der Bildhauerarbeit«.

AllesWirdGut betreiben dabei JiuJitsu. Sie wenden Dinge und machen sich die Dynamik des Ortes zunutze. »Indem sogenannte Probleme als Chance gelesen werden, entstehen neue, unerwartete Möglichkeiten«, formulieren sie ihre Bürophilosophie. »Das Ziel ist immer, über die gegebene Aufgabe hinaus zusätzliche Qualitäten zu finden und zu realisieren.« Wie in Krems, wo mit dem NHK (Niederösterreich Haus Krems) Österreichs größtes Büro-Passivhaus entstand. Statt das Projekt auf die grüne Wiese zu verlegen und dort frei von allen Einschränkungen zu verwirklichen, stellten sie sich den Herausforderungen des Ortes, den kleinteiligen Parzellen, den Gassen, Passagen und Innenhöfen und legten auf dem zersplitterten Grundstück eine kleine Stadt in der Stadt an. Das Haus schreibt sich in den Kontext ein und wird Krems.

»Das Ziel ist immer, über die gegebene Aufgabe hinaus zusätzliche Qualitäten zu finden und zu realisieren.«

Friedrich sei der Zielstrebige, Christian der Ernsthafte, Andi der Spitzbub und er der Rebell, lacht Spiegl, mit 38 Jahren Jüngster der vier. Projekte leitet immer nur ein Partner, am Anfang stehen gegenseitiger Austausch und viel Respekt vor der Meinung der anderen. »Skulpturale Fähigkeiten bringen wir alle mit«, erklärt Spiegl, der von spektakulären Bauten als Selbstzweck gar nichts hält. »Wir bilden ein Team, das stark aus dem Kontext arbeitet und Projekte sehr pragmatisch führt.« Dazu komme ein konzeptbezogener Kick, eine Geschichte. »Zu wissen, warum man etwas macht, ist besonders wichtig.«

Freundschaft? »Auf jeden Fall. Zum Glück verbringen wir nicht mehr ganz so viel Zeit im Büro wie früher, aber damals waren es die intensivsten Beziehungen, die ich hatte«, sagt Spiegl. »Das hat extrem zusammengeschweißt«. Geholfen haben dabei ein Faible für Mode und die Rocker von »Monster Magnet«, deren Song ist»Negasonic Teenage Warhead« Mitte der 1990er Jahre in jedem Club zu hören war.

In der zwölfjährigen Geschichte des Büros gab es nur eine längere Diskussion – ausgerechnet über die eigene Homepage, die für viele andere Büros inzwischen stilbildend wirkte: lässig und informativ, wie ein Fahrplan in ihr architektonisches Denken. Da seien die Meinungen stark auseinander gegangen, erinnert sich Spiegl. Alles andere war und ist »Nörgeln auf hohem Niveau«, es gehe um Kleinigkeiten, um Details. Jeder gebe mal nach, wichtig sei das »Topergebnis am Schluss«.

Das Spektakuläre braucht das Selbstverständliche. Wer glaubt, hier arbeiteten nur titanische Baumeister und Bildhauer, geht in die Irre. Die Wiener trotz einprägsamer, ja beeindruckender Bauten quer zur öffentlichen Meinung. Architektur lasse sich eben nicht auf »Formen erfinden und Farben definieren« reduzieren, behauptet Spiegl. »Räume zu definieren und Raumstimmungen zu erzeugen« komme der Aufgabe schon näher. Natürlich sind sich AllesWirdGut bewusst, welche Macht sie in Händen halten. Spektakuläre Fassaden wirken wie ein Katalysator, sie beschleunigen die Entscheidungsfindung und beeinflussen öffentliche Meinung, aber letztlich gehe es um andere Qualitäten. In zwölf Jahren hat das Quartett Marth, Waldner, Passler und Spiegl bewiesen, wie man eine Balance findet aus spektakulären Fassaden und selbstverständlichem Auftreten. »Ob das Gebäude rot, blau, grün aussieht oder in der Farbe des Gesteins erscheint, sollte seiner Qualität nicht viel anhaben können.« Wichtig sei nur eines: Es müsse funktionieren.

Acht Mitarbeiter, fünf Praktikanten und »vier Chefs«, das sind AllesWirdGut. Sie wollen nichts weniger als »die Welt verbessern«. Bei den Wienern wird Architektur zur sozialen Dienstleistung. Sie legen die Basis für das tägliche Miteinander. Der Stadtplaner als sozialer Bauarbeiter, dieser Gedanke ist AllesWirdGut nicht fremd. Trotzdem klingt Spiegl unzufrieden. Demnächst, erklärt er, werden sie wieder mehr Schärfe in die Projekte einbringen, wieder stärker den eigenen Idealen verpflichtet sein und weniger strategisch denken. Da trifft es sich gut, dass der charmante Büroname bleibt. Das habe pragmatische Gründe, erklärt Spiegl. Das Wiener Gemüt sei insgesamt etwas grantig, besonders am Telefon, aber wenn sie sich mit »AllesWirdGut« meldeten, steige die Laune sofort.

10 Fragen an Christian Waldner, Herwig Spiegl, Friedrich Passler, Andreas Marth:

1. Wann haben Sie Ihr Büro gegründet und was war die größte Herausforderung dabei?

Bürogründung 1999. Größte Herausforderung war, eine funktionierende Bürostruktur aufzubauen, in der einigermaßen normale Arbeitsbedingungen herrschten und man trotzdem beruflich erfolgreich sein konnte.

2. Welche Vorbilder hatten/haben Sie?

Während des Studiums fielen uns junge Holländer wie MVRDV und NL Architects auf, die erfolgreich waren und erfrischende Architektur boten. Das hat uns Mut gegeben, es selbst auch zu probieren.

3. Was ist die Kernphilosophie Ihres Büros?

Veränderungen zulassen. Neues ausprobieren. Dabei aber nicht vergessen, unsere Verantwortung gegenüber Bauherren, Gesellschaft und Umwelt zu wahren.

4. Was wollen Sie anders machen als die anderen?

In Österreich gab es zu unserer Gründungszeit die alte Garde, die baute, und die junge Generation, die nicht baute. Wir wollten jung sein und bauen!

5. Welche Anerkennung hat Sie gefreut – warum?

Unsere Ladung zur »Biennale di Venezia 2004«, durch die damalige Kuratorin Marta Schreieck. Das war so ein Gefühl, etwas geschafft zu haben,

wo man immer hin wollte. In dem Moment fast wie ein Olympiasieg. Im Nachhinein relativiert sich alles und man sucht immer nach neuen Herausforderungen und Zielen.

6. Was tun Sie in Sachen Eigen-PR?

Grundstein der Eigen-PR war eigentlich schon unser Büroname, der nach wie vor einfach zieht. Enorm wichtig ist unser Webauftritt, der vor nunmehr vielen Jahren eine richtungsweisende viel kopierte Präsenz war. Neu dazu gekommen ist unsere Facebook-Seite. Das »AllesWirdGut-Buch 01 und 02« ist eine schöne Sammlung geworden, auf die man stolz sein kann und sicherlich weitergeführt wird. Zahlreiche Publikationen, Vorträge und Ausstellungen vervollständigen unsere Präsenz im Architekturgeschehen.

7. Warum lohnt es sich, trotz immer schmaler werdender Budgets im Bereich Bauen tätig zu sein?

Wir hatten mit dem uns zur Verfügung gestellten Baubudgets eigentlich nie Probleme. Natürlich kann mit schmalen Budgets nicht jedes Projekt hochwertigst ausgeführt sein. Uns interessiert aber neben der Ausführung vor allem auch das Erarbeiten von interessanten Konzepten, ungewöhnlichen Ansätzen und Hervorbringen von speziellen Qualitäten aus der konkreten Bauaufgabe heraus. Solche unerwartete Lösungen sind meist unabhängig vom Budget und oft das eigentliche »Highlight« unserer Projekte.

8. Was sind Ihre drei wichtigsten Bauten?

Aktuell das ZIV (Zivilschutzzentrum Innichen), ROM (Römersteinbruch St. Margarthen), NHK (Niederösterreich Haus Krems)

9. Wie sieht Ihr Traumauftrag aus?

Ein großes Projekt in Innenstadtlage mit spannendem Nutzungsmix aus Wohnen, Büro, Entertainment, Gastronomie, Shopping und Freiräumen. Die »5 Höfe« in München zum Beispiel!

10. Wie würden Sie durch Ihre Arbeit das Umfeld in Städten verbessern wollen?

Allgemein träume ich besonders für unsere Kinder von Städten, in denen das Auto optimal ersetzt worden ist. Ich glaube, das wird unsere Städte die nächsten 50 Jahre am nachhaltigsten verändern. Ich hoffe, da gelingt ein großer Wurf! Wie der aussieht, habe ich aber leider keine Ahnung, da sollte aber viel mehr interdisziplinärer Hirnschmalz reinfließen.

Von Oliver Herwig

AllesWirdGut Architektur ZT GmbH
Josefstädter Straße 74/B
1080 Wien, Österreich
+43 196 10 43 70
awg@alleswirdgut.cc
www.alleswirdgut.cc

Abbildung:
Festspielgelände im Römersteinbruch St. Margarethen, 2008

Die Welt im Umbruch Wertschöpfungsperspektiven 2030

KAP Magazin #7
Die Welt im Umbruch

Wertschöpfungsperspektiven 2030

Die Welt im Umbruch
Wertschöpfungsperspektiven 2030
Aus dem KAP Magazin #7

Wir leben in einer bewegten Zeit, Umwälzungen und Brüche scheinen an der Tagesordnung zu sein. Die Volatilität an den internationalen Kapitalmärkten ist noch lange nicht ausgestanden, die Unruhen in der arabischen Welt dauern an, technologische Umbrüche in Verbindung mit digital vernetzten und bestens informierten Kunden erzwingen Veränderungen der Geschäftsmodelle. Unsicherheiten gehören mittlerweile zum Alltag. Wie gelingt es in einem solchen Umfeld, Wertschöpfung und Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten?

Diese Frage hat sich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) gestellt. Unter Federführung vom BDI-Arbeitskreis »Wertschöpfungsorientierte Innovationsstrategien« ist eine Studie entstanden. Sie identifiziert grundlegende Disruptionspotentiale und analysiert in der Perspektive bis 2030, welche Auswirkungen solche Disruptionen potenziell auf die Wertschöpfungsstruktur in Deutschland haben und wie zukünftig Forschungs- und Innovationspolitik aussehen muss, um den Standort zukunftsfähig zu machen.

Die Atomkatastrophe von Fukushima und die Energiewende in Deutschland waren ein Fanal: Deutschland, Europa und die Welt befindet sich in einer Phase rasanter Veränderung. Die Dynamik, die sich im Finanz­ und Währungssektor, bei ökologischen und demografische Fragen zeigt, dazu die hohe Volatilität in vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen, all dies spricht für eine Zukunft, in der der Wandel nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein wird. Eine Zukunft voller Umwälzungen und Brüche scheint bevorzustehen. Das ist die Grundannahme der aktuellen Studie »Deutschland 2030 – Zukunftsperspektiven der Wertschöpfung«, beauftragt vom BDI.

Eine Zukunft voller Umwälzungen und Brüche scheint bevorzustehen.

Darin zeigt sich, dass neue Formen eines konstruktiven und kooperativen Zusammen­wirkens von Politik, Gesellschaft und Wirt­schaft notwendig werden. Diese Koopera­tionen sollten idealerweise auch in zukunfts­fähigen Geschäftsmodellen der Unter­ nehmen ihren Niederschlag finden. Die wichtigsten Ergebnisse des Projekts werden im Folgenden zusammengefasst.

Klassische Branchengrenzen werden ver­schwinden, dafür entstehen neue, über­ greifende Handlungsfelder und Koopera­tionsformen. Beim Thema Gesundheit beispielsweise geht es um den Einzelnen innerhalb großer Patientengruppen, um seine genetische Ausstattung, sein Verhal­ten und sein individuelles Lebensumfeld. Die personalisierte Medizin wird dem Rech­nung tragen. In der Forschung setzt sich interdisziplinäres Denken endgültig durch, Branchen stehen sich nicht mehr fremd gegenüber, sondern kooperieren, sofern sie an einem gemeinsamen Geschäfts­modell partizipieren (Win­Win­Situation). Es entstehen maßgeschneiderte Angebot­spakete aus Produkten und Services, klas­sische Sektoren verlieren zunehmend an Bedeutung. Bei Gesundheit, Ernährung und Kosmetik zum Beispiel ist mit der Bildung neuer, zielgerichteter Allianzen zu rechnen.

Nicht mehr das Auto als Symbol des Individualverkehrs steht im Mittel­punkt, sondern die Bereitstellung intelli­genter und verkehrsträgerübergreifender Mobilität.

Die Wertschöpfung im Jahr 2030 verlangt laut Studie nach einem systemischen und ganzheitlichen Verständnis von Innovati­on. Veranschaulicht am Beispiel Mobilität heißt das: Nicht mehr das Auto als Symbol des Individualverkehrs steht im Mittel­punkt, sondern die Bereitstellung intelli­genter und verkehrsträgerübergreifender Mobilität. Entscheidend ist, Qualitätsziele zu definieren: Welche Mobilität wollen wir eigentlich, zu welchem Preis und zu welchen Konditionen? Neue Akteure werden den Markt betreten: Produzenten von postfossilen Antriebssystemen oder Batterien, Energie­ und IT­Anbieter. Städte und Regionen übernehmen mehr Ver­antwortung und definieren den öffentli­chen Verkehr als integralen Bestandteil internationaler Mobilität neu. Vernetzte Informationsdienste machen nahtlose Mobilität über alle Verkehrsträger hinweg erst möglich.
Die allgegenwärtige Informatisierung wird sich tendenziell in sämtlichen Branchen und Lebensbereichen durchsetzen. Es entsteht ein Internet der Dinge, in dem nicht nur Menschen, sondern auch Objekte selbstän­dig Informationen austauschen werden. Die Perspektive ist eine autonome und globale Steuerung dezentraler Produktionsprozesse in Echtzeit. Die physische und digitale Welt werden verlinkt. Wissensbasierte Systeme helfen, die sich abzeichnende Komplexität zu beherrschen. Die Verschmelzung der Sys­teme birgt gewaltige Potenziale, aber auch Risiken. Die IT­Sicherheit wird folglich in der Zukunft eine große Rolle spielen.

Ob Energiewende, Steigerung der Ressourceneffizienz oder Kreislaufwirtschaft, eine zukunftsfähige Innovationsstrategie wird vielseitige und unkonventionelle Ansätze berücksichtigen.

Die Wertschöpfung der kommenden zwei Jahrzehnte schließlich wird von nachhalti­gen Lösungen geprägt. Deutschland ist eine rohstoffarme Industrienation. Die Versor­gungssicherheit ist und bleibt ein Thema mit hoher Priorität. Ob Energiewende, Steigerung der Ressourceneffizienz oder Kreislaufwirtschaft, eine zukunftsfähige Innovationsstrategie wird vielseitige und unkonventionelle Ansätze berücksichtigen. Dabei liegen im Bereich der nachhaltigen Infrastruktur durchaus Exportchancen. Das gilt für Kraftwerk-Technologien, für Spei­chersysteme im Kontext des Smart Grid (intelligente Stromzähler, Anm. d. Red.) und für die Energieeffizienz –Wachstumsmärkte des 21. Jahrhunderts.

Die künftige Geschäftslogik bedarf einer Neuausrichtung der Stakeholder­ und Kun­denbeziehungen. Bereits heute haben Kunden­Communities im Internet erheb­lichen Einfluss. Ihre Stärke liegt in der Offenheit der Kommunikation. Die Positi­onen im Markt, geprägt von Produzenten, Zulieferern, Kunden und NGOs – sind bereits in Bewegung. Unternehmen können dieser Dynamik zum Opfer fallen, sie können diese aber auch zu ihrem Vorteil nutzen. Erfolg­reich wird sein, wer die Fähigkeit besitzt, neue Allianzen zu schmieden. Aber Vorsicht: Prozesse zu steuern wird infolge wachsen­ der Komplexität immer schwieriger. Auch deshalb ist eine emotionale Kunden­ und Markenbindung als sehr wichtig einzustufen. Zukunftsorientierte Produkte und Dienst­leistungen, zum Beispiel für die alternde Gesellschaft, erfordern eine Kommunikati­on, die nicht nur über Branchengrenzen hin­ ausgreift, sondern den Kunden als Innovator einbezieht.

Der Wandel, so die Schlussfolgerungen aus dem Projekt, wird häufig durch neue wissenschaftlich-­technische Erkenntnisse ausgelöst. Die Umsetzung im Markt ge­schieht aber nur unter der Voraussetzung, dass entsprechende Infrastrukturen, Rah­menbedingungen und Geschäftsmodelle vorhanden sind. Chancen und Risiken der Wertschöpfung im Jahre 2030 werden sich deshalb nicht zuletzt auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen. Im Zentrum der Wirt­schaft steht der Mensch. Für ihn muss es eine Brücke von der alten in die neue Welt der Beschäftigung geben.

Paradigmenwechsel der Wertschöpfung

Eine genauere Betrachtung der Ergebnisse aus einer branchen-­ und unternehmensüber­greifenden Perspektive lässt allgemeine Mus­ter erkennen. Fünf zentrale Erkenntnisse zum langfristigen Wandel der Wertschöpfung, sogenannte Paradigmenwechsel, werden im Rahmen des Projekts identifiziert. Dabei zeigt sich: Die Dinge werden nicht einfacher, sondern komplizierter. Und die Volatilität nimmt zu.

 

1. Branchenübergreifendes Kooperationsmanagement wird zum kritischen Erfolgsfaktor in wertschöpfungsorientierten Innovationssystemen

Die Grenzen zwischen den Branchen sind schon jetzt längst in Bewegung geraten. Der entscheidende Schritt in die Zukunft ist eine offensive Vernetzung innerhalb traditionel­ler Branchen sowie mit neuen Branchen. Daraus erwachsen Innovationen und neue Geschäftsmodelle. Wenn es um preisgüns­tige, unkomplizierte und nahtlose Mobilität für den Kunden geht, sind Akteure aus der Automobilbranche, dem Energiesektor und der IT­Branche ebenso gefragt wie Vertreter von Städten und Kommunen. Schließlich müssen auch Elektroautos parken – und ganz nebenbei aufgetankt, oder präziser: aufgeladen werden. Der Übergang vom Auto zum Flugzeug oder zum Fahrrad sollte leicht und entspannt zu realisieren sein. Dafür braucht es Plattformen mit vielfältigen Kompetenzen und die Fähigkeit zur Gestal­tung von Produkt­Service­Innovationen, sowie nicht zuletzt das aktive Management der Schnittstellen in den neuen, hybriden Wertschöpfungsstrukturen.

Es ist davon auszugehen, dass einzelne Unternehmen alleine tendenziell nicht mehr in der Lage sein werden, die entscheiden­ den Innovationen am Markt durchzusetzen. Gewinner wird sein, wem es gelingt, die we­sentlichen Stakeholder für gemeinsame Stra­tegien zu gewinnen. Es gilt, die Kompetenz von internen und externen Wissensarbeitern einzubringen – und das flexibel und projekt­bezogen. Dabei wird es um Partnerschaf­ten auf Zeit gehen und die Akzeptanz von Lösungen für den Benutzer.

Einzelne Unternehmen alleine werden tendenziell nicht mehr in der Lage sein, die entscheiden­ den Innovationen am Markt durchzusetzen.

2. Auf dem Weg von der partikularen zur ganzheitlichen Innovation

Systeminnovationen über Branchengrenzen hinweg und die Entwicklung integrierter Wertschöpfungsketten haben eine ent­ scheidende Voraussetzung: die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Die nahtlose Mobilität verlangt von Akteuren aus unter­ schiedlichen Branchen, dass sie Pakete aus Produkten und Dienstleistungen schnüren. Sie bestehen zum Beispiel aus Fahrzeugen, dazu aus Real­Time­Verkehrsinformationen, Verkehrsleittechnik, Zugangstechnik und anderen Services. Neue Geschäftsmo­delle müssen dem Rechnung tragen. In vielen Fällen kommt es zu einer breiteren Streuung von Gewinnen, aber auch von Risiken, Letztere sind z. B. das Auftauchen neuer Akteure aus den Emerging Markets oder auch die Unfähigkeit der Unternehmen angepasste Geschäftsmodelle auf Basis von Wertschöpfungspartnerschaften zu entwickeln.

In der deutschen Innovationslandschaft von heute dominieren Produkte, Dienstleis­tungen und Prozesse. In Zukunft werden von Beginn an Geschäftsmodelle stärker betrachtet werden, und in diesem Zusam­menhang auch Finanzierungsinstrumente und ­-kriterien. Entscheidend ist die Pers­pektive des Nutzers.

3. Nachhaltige Innovationen werden zum zentralen Hebel der Wertschöpfung

Wenn das fossil gestützte Weltenergiesys­tem langfristig dekarbonisiert werden muss, also Kohlenstoffemissionen zu vermeiden sind, und wenn Knappheit bei Rohstof­fen eine ressourcenextensive Ökonomie verlangt, dann wird kein Wirtschaftszweig sich dem entziehen können. Nicht nur ökologische, auch soziale Anforderungen, dazu Innovationen auf technischem wie gesellschaftlichem Gebiet bringen den Prozess voran. Zug um Zug wird sich das Thema Nachhaltigkeit in allen Märkten durchsetzen, eine Entwicklung, die traditi­onelle Branchengrenzen verwischen und neue Wertschöpfungscluster entstehen lassen wird. Auf Seiten der Unternehmen gewinnen neue Instrumente an Bedeutung, die dem ganzheitlichen Ansatz der Nach­haltigkeit Rechnung tragen. Zukunftsfähige Innovationen werden dann zum zentralen Wachstumstreiber im Land.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass reale Knappheiten und veränderte Wertvor­stellungen den Umbruch einleiten werden, der neuen ökonomischen Notwendigkeiten entspricht. Stoffströme und Austauschpro­zesse der Wirtschaft werden neu konfigu­riert, weil längerfristige Knappheit mehr und mehr ins Bewusstsein dringt.

Unternehmen werden in zunehmend komplexeren Produkt­ und Dienstleistungs­systemen agieren.

4. Bildung neuer Interessensallianzen – vom Shareholder Value zum Stakeholder Value

Unternehmen werden in zunehmend komplexeren Produkt­ und Dienstleistungs­systemen agieren, neue Geschäftsmodelle werden, wie bereits erwähnt, erforderlich. Diese müssen zudem ihre geschäftlichen Aktivitäten stärker mit unterschiedlichen Interessengruppen abstimmen, um ihre Legitimation auf Wertschöpfung (licence to operate) zu erhalten. Ein Beispiel sind die bereits erwähnten Kunden­Communities im Internet, die die Position des Endnutzers im Markt erheblich stärken.

Die Gewinnorientierung von Unternehmen bleibt zwar, so die Annahmen, konstituie­rend, aber sie unterliegt öffentlichen Debat­ten. Die Kongruenz von Gewinnorientierung und Gemeinwohl-Orientierung steht immer wieder im Mittelpunkt der Diskussion, über­haupt geraten geschäftliche Aktivitäten zunehmend unter sozialen Rechtfertigungs­druck. Aus all dem ergibt sich in Zukunft die Notwendigkeit, die verschiedenen Stakeholder – gesellschaftliche Gruppen, NGOs, vor allem aber die Kunden – in die Geschäftsprozesse frühzeitig einzubinden. Innovationen werden dadurch erleichtert. Unterbleibt die Kommunikation, kommt es leicht zu Akzeptanz-Problemen im Verhältnis zu Politik und Gesellschaft. Das wird aktuell bereits bei der Planung neuer Energieinf­rastruktur deutlich, etwa Standortdebatten bei Windkraftanlagen und neuen Stromt­rassen. Firmen müssen jetzt und zukünftig lernen, sich in diesem Spielfeld zu bewegen und die Erwartungen und Einwände der verschiedenen Anspruchsgruppen auszu­balancieren.

Unternehmen, vor allem in konsumenten­nahen Märkten, werden belohnt, wenn es ihnen gelingt, Kunden und Stakeholder auf verschiedenen Stufen der Wertschöpfung – in der Entwicklung, der Produktion oder im Vertrieb – aktiv einzubeziehen.

5. Wandel von klassischen Planungsprozessen hin zum Management und zur Steuerung von Komplexität

Trotz sich abzeichnender Veränderungen werden Märkte jedoch immer weniger plan­bar. Unsicherheiten und Instabilitäten im Wettbewerbsumfeld werden Teil der neuen Normalität. Sie zu steuern wird zur zentralen Herausforderung, damit aber nicht genug: Auch weiterhin werden Rohstoffpreise schwanken, politische Rahmenbedingun­gen variieren, Wirtschaftszyklen schneller verlaufen. Krisenhafte Perioden werden sich abwechseln mit Boomphasen; die Verletzlichkeit der zunehmend virtuellen Geschäftsprozesse nimmt also zu. Cyber-At­tacken sind eine permanente Bedrohung, ein nicht zu unterschätzendes Problem, dem es mit adäquaten Lösungen entgegen­ zutreten gilt.

Die Perspektive: Unternehmen können auf die hohe Volatilität reagieren, indem sie sich darauf einstellen, bei Rohstoffen zum Beispiel langfristige Absprachen zu tätigen. Auch, indem sie ihre Märkte einem perma­nenten Monitoring unterziehen und ihre eigene Reaktionsgeschwindigkeit erhöhen. Dies kommt einem Systemwechsel gleich: weg vom klassischen Planungsprozess hin zur Steuerung von Komplexität, etwa durch die Vernetzung unterschiedlicher System­ komponenten und Akteure. Entsprechend verändern sich auch die Organisationsfor­men: weg von der linear­hierarchischen Struktur hin zum Management von Kapital­, Waren­ und Stoffströmen in dezentralen Netzwerken. Der Gravitationspunkt der Wertschöpfung wird sich dabei in Richtung auf die »Intelligenz« (Software, Brainware) von Produkten bewegen, auf die Akzeptanz der Nutzungskonzepte und neue serviceori­entierte Geschäftsmodelle.

 

von Klaus Burmeister

Der Autor: Klaus Burmeister – Gründer und Geschäftsführer von foresightlab – hat maßgeblich an der Studie mitgewirkt.

Designen mit Bestand

KAP Magazin #7
Piet Hein Eek

Designen mit Bestand

Designen mit Bestand
Als Philips ging, kam Eek um die Ecke
Aus dem KAP Magazin #7

Er ist der Herr der vergessenen Materialien: Piet Hein Eeks Möbel stammen aus altem Verbundmaterial. Vor zwei Jahren entdeckte der holländische Designer ein ganzes Gelän­de zum Recyclen.

Es duftet nach frisch gesägtem Holz, Musik spielt, eine Kreissäge vibriert – kaum hat man die alten Fabrikhallen aus Backstein betreten, eröffnet sich die Welt des Piet Hein Eek. Helle, deckenhohe Räume, in denen seine kräftigen, klaren Möbel Akzen­te setzen. Der Designer, der in Eindhoven studierte, ist mit seinen Stühlen, Tischen und Schränken, die mit ihren patchwork­artig zusammengesetzten Oberflächen an Schwemmholz erinnern, international gefragt. Wertlose Materialien? »Nicht für mich«, sagt der Gestalter, »ich mag Low­ Tech-­Werkstoffe und lasse mich bei meinen Entwürfen hundertprozentig vom Material bestimmen.«

»Designer haben mittlerweile Popstar­ Status und kultivieren ihn. Für unsere Kreativität ist das nicht gut. Popstars kom­men und gehen«

Schon früh wurde er von der New York Times mit seinem eigensinnigen Ansatz als einer der Stardesigner Hollands vorge­stellt. Eek ist auf dem Teppich geblieben. »Designer haben mittlerweile Popstar­ Status und kultivieren ihn. Für unsere Kreativität ist das nicht gut. Popstars kom­men und gehen«, ist er überzeugt. Er setzt auf Kontinuität, Nachhaltigkeit und solides Handwerk. In seiner Manufaktur sitzen die Mitarbeiter erst gemeinsam zur Mittags­pause am großen Tisch, kurz danach klingt die Band »Men at Work« aus den Lautsprechern und die jungen Schreiner bauen an den Werkbänken akribisch Eeks Entwürfe nach. »Wir produzieren fast 100 Prozent meines Designs selbst«, sagt Piet Hein Eek. Zu seiner Kollektion gehören heute Lampen, Stühle, Schränke und So­fas, Kindermöbel und freie künstlerische Arbeiten. Wie sie hergestellt werden, kann jeder Besucher sehen – alle Arbeitsberei­che sind durch lichtes Glas getrennt.

Transparenz war für Piet Hein Eek auch in seinem ersten Produktionsort wichtig, in Geldrop, einem Vorort von Eindhoven. Im Jahr 2010 kaufte er dann die alten Produktions­hallen des Elektronikunternehmens Philips auf und verlegte Gestaltung, Fertigung und Ausstellung in das einstige Industriegelände. Ein waghalsiges Unternehmen, gesteht er in seinem Büro, in dem er von seinen Mitar­beitern nur durch ein hohes Regal getrennt ist. Der Schreibtisch ist klein, das Reißbrett groß, Papierstapel, Stifte, Erinnerungen und altes Kinderspielzeug zeugen von der Lust an neuen Ideen und Entwürfen.

»Ich will keine Unikate herstellen, denn davon kauft man eines und es ist entsprechend teuer. Sondern authen­tische Möbel, die seriell gefertigt werden.«

Unterstützung aus Brüssel erhielt der Designer für seine mutige Idee, sich im Lehmann­ Krisenjahr neu aufzustellen, jedoch nicht. »In Brüssel gibt es zwar entsprechende Fonds, aber sie haben das Konzept nicht verstan­den«, erklärt er. Dabei ist es so erfolgreich wie simpel: Einen Ort zu schaffen, der Ateliers, Fertigungshalle, Showroom, Galerie, Restaurant und Veranstaltungen verbindet. Eine gläserne Werkstatt und Produktion, in denen er seine einfache, aber preisgekrönte Möbelidee umsetzt. »Ich will keine Unikate herstellen, denn davon kauft man eines und es ist entsprechend teuer. Sondern authen­tische Möbel, die seriell gefertigt werden.« Seine Entwürfe werden von einem erfahrenen Team aus 90 Schreinern und Mitarbeitern um­ gesetzt, produziert, versendet und verkauft. Kein Stück gleicht dem anderen: hier ist das Holz dunkler, dort hat es mehr Patina. Und die Kunden verlassen mit dem Hochgefühl, ein echtes Piet-­Hein­-Eek­-Original gekauft zu haben, stolz die Hallen.

Interessierte reisen inzwischen aus der ganzen Welt an, um das neue Leben in den ehemaligen Keramikwerken von Philips zu erleben. Sie füllen auch das neue Restau­rant auf dem Gelände, das mit seiner Spei­sekarte – Ziegenkäse aus den Niederlanden, Burger mit selbst gemachtem Landbrot – ge­nauso ehrlich daherkommt. Serviert wird auf Blümchen-Porzellan, das von Omis Esstisch oder dem Trödel stammen könnte.

Um das neue Areal ans Laufen zu bringen, trug Piet Hein Eek das persönliche Risiko. »Wir verdienten unser Geld mit der Kollektion und subventionierten die neue Idee«, erzählt er. Inzwischen hat sich auch der Standort Eindhoven gemausert. »Es ist die Produktions­region in Holland«, erzählt er. Auch ein Grund, warum immer mehr Designer von Rotterdam aus in das rund dreimal kleinere Städtchen mit seiner berühmten Design­Akademie ziehen. »Eindhoven ist das frisch gebackene Silicon Valley der Niederlande«, lacht Eek und spielt damit auf den neuen Campus an, der ebenfalls auf dem Philips­-Gelände entstand. Hier residiert inzwischen das nati­onale Forschungs-­ und Entwicklungscluster der Niederlande mit rund 100 Einrichtungen. 8.000 Menschen arbeiten an künftigen Anwendungen, die von der Medizintechnik über IT­Sicherheit bis hin zu Energiemanage­mentsystemen reichen.

Die ganze Welt – quasi fassbar um die Ecke. Das Gelände inspiriert. Auch Piet Hein Eek. Und er bleibt auch hier seiner zweiten, ganz privaten Erfolgsstrategie treu, wie er es schon nach dem Studium tat. »Die erste Maßnahme war, dass ich mir eine Umge­bung gestaltete, in der ich mich richtig wohl fühlte. Denn für mich stand fest: nur in einer Umgebung, in der ich mich gut fühle, kann ich auch richtig spannende Sachen entwerfen.«

www.pietheineek.nl

von Inken Herzig

Der Maßstab macht den Unterschied | J. Mayer H.

KAP Magazin #8
J. Mayer H.

Der Maßstab macht den Unterschied

J. Mayer H.
Der Maßstab macht den Unterschied
Aus dem KAP Magazin #8

Standort: Berlin
Gründungsjahr: 1996
Inhaber: Jürgen Mayer H.
Schwerpunkte: Architecture, Design, Research
Mitarbeiter: ca. 20
www.jmayerh.de

Manchen Gebäuden gelingt sie einfach, die Quadratur des Kreises: städtebaulich angenehm konservativ und dennoch architektonisch innovativ zu sein – dies gilt beispielsweise für ein aufsehenerregendes neues Wohnhaus in Berlin-Mitte, entworfen von Jürgen Mayer H.

Es ist eine »Neuinterpretation des klassischen Berliner Wohnhauses« – allerdings der besonderen Art. Denn obwohl der Typus des an den Blockrand schließenden Mietshauses in Berlin gut eingeführt ist, ist es die Fassadengestaltung, die völlig aus dem spröden Berliner Rahmen fällt: Eine vielfach gewölbte, vor eine Glasfassade gehängte Schicht aus dreidimensional gefrästen Aluminium-Lamellen dient bei dem Wohnhaus in der Johannisstraße unweit der »Kalkscheune« zur Verschattung. Diese Schicht lenkt geschickt Tageslicht in die Innenräume und lässt das Haus im braven Berliner Blockrand dennoch wie einen extraterrestrischen Zyklop wirken. Die seltsam geschmolzen wirkenden weichen Formen, ein Markenzeichen des Architekten, finden sich auch bei seinem neuesten Werk, einer »OLS House« genannten Villa bei Stuttgart. Dieses ungewöhnliche, luxuriöse Einfamilienhaus mit 500 Quadratmetern Fläche liegt auf einem Hanggrundstück mit weitem Blick in ein Tal. Die Bauherren wünschten sich einen Neubau, der diesen Ausblick auch im Inneren erlebbar macht. Die fließenden Räume, die Jürgen Mayer H. dem Haus eingeschrieben hat, öffnen sich visuell entsprechend zum Tal hin mit raumhohen Fenstern. Zusätzlich sind alle Böden mit einem spiegelglatten Estrich versehen, der dem Haus seine coole James-Bond-Ästhetik gibt.

© Fotos: DavidFranck

Für einen Architekten seiner Generation ist Jürgen Mayer H. auch außerhalb der deutschen Landesgrenzen ungewöhnlich erfolgreich: in Spanien, Dänemark und Georgien konnte der Wahlberliner bereits bauen – und auch im benachbarten Belgien. Ausgerechnet in der Provinzstadt Hasselt hat er einen spektakulären Justizpalast entworfen, der nicht nur wegen seiner prominenten Lage am Bahnhofsplatz sofort zum neuen Wahrzeichen der Stadt avancierte. Mit 13 Etagen ist er von der gesamten City aus gut sichtbar, auch weil seine skulptural-baumhafte Form auf ungewöhnliche Art drei unterschiedliche Volumen miteinander verschmelzen lässt. Als Inspiration für seinen Entwurf dienten Mayer H. die Haselnussbäume im Stadtwappen von Hasselt und die mittelalterliche Tradition, Gericht unter Bäumen abzuhalten. Vom Panoramarestaurant in der Spitze des Justiz-Turmes in 64 Metern Höhe kann man auf die ganze Stadt blicken – nur hier sieht man ihr neues bauliches Merkzeichen dann nicht.
Das Büro J. Mayer H. Architekten beschäftigt heute fast zwei Dutzend Mitarbeiter, die sich neben Architekturauch mit Kunst- und Design-Projekten beschäftigen. Im Büro in der Knesebeckstraße in Berlin-Charlottenburg arbeitet man in einer Altberliner Wohnung mit Vorliebe an der Schnittstelle zwischen diesen Bereichen.

»Meine künstlerischen Arbeiten habe ich nie unabhängig von der Architektur gesehen«, sagt Jürgen Mayer H. etwa, der einst Bildende Kunst studieren wollte, bevor er sich mehr für dreidimensionale Objekte interessierte und schließlich für ein Architekturstudium entschied. Der Hauptunterschied zwischen Kunst und Architektur liegt für ihn nur im Maßstab – und der Geschwindigkeit: In der freien Kunst lassen sich Ideen schneller umsetzen als in der Baukunst.

»Meine künstlerischen Arbeiten habe ich nie unabhängig von der Architektur gesehen«

Jürgen Mayer H. (Jahrgang 1965) ist der Maßstab seiner Aufgaben weniger wichtig, als dass Architekt und Auftraggeber die Neugier am Abenteuer Architektur teilen.

Um Mayer H.’s ungewöhnliche Raumideen und eigenwillige Formensprache umzusetzen, bedarf es einer produktiven Komplizenschaft. Der organische Formenkanon, für den Mayer H. heute weltberühmt ist, wurde einst von dem deutsch-jüdischen Meister der 1920er-Jahre-Architektur, Erich Mendelsohn, inspiriert. Dessen Kaufhaus Schocken in Stuttgart von 1928 hat Mayer H. einst dazu gebracht, Architektur studieren zu wollen. Mendelsohn war der Meister der einmalig eleganten geschwungenen Fassaden mit horizontalen Fensterbändern – die damals noch völlig ohne Computerprogramm entworfen und baubar gemacht wurden. Selbst sehen hat Mayer H. dieses Meisterwerk leider nicht mehr können, denn es wurde 1960 ohne Not abgerissen. Aber auch für Mayer H.’s Baukunst spielt die mediale Vermittlung eine zentrale Rolle. Denn kaum einer wird sein Erstlingswerk aus eigener Anschauung kennen. Des Architekten erster großer Auftrag steht in seiner schwäbischen Heimat: Mit dem 2001 eröffneten »Stadthaus« in Ostfildern wurde Jürgen Mayer H. bekannt.

Es zeigt exemplarisch sein Interesse am Potenzial von Materialien, die, Zitat, »gezielt ungewöhnlich eingesetzt werden, um Sehgewohnheiten in Frage zu stellen, und so Irritationen auslösen«.

Eine Holzkonstruktion aus vorgefertigten Elementen für die Mensa in Karlsruhe wurde mit einer vollflächig gummiartigen Kunststoffschicht aus Polyurethan überzogen, geboren aus dem Gedanken der Kostenersparnis und des Witterungsschutzes für das Holz. Dieser PolyurethanÜberzug wurde bis dahin nur für Dachabdeckungen und Brückensanierungen verwendet und ermöglicht formal das »Verschleifen« von Wand, Decke und Fußboden, so das ein »elastischer Raum mit kontinuierlichen Oberflächen« geschaffen wird, beschreibt der Architekt.

Wie Kumulus-Wolken ist sind hingegen die Silhouetten des der »Danfoss Universe«-Gebäudes geformt, das die der Architekt 2007 in einem Technikpark in Nordborg/Dänemark gebaut hat. Die wechselnden Ausstellungen sollen Jugendlichen digitale Technologien auf spielerische Weise nahe bringen und in eine wortwörtliche »Entdeckungslandschaft« entführen.

Noch exotischer muten die Formen von Mayer H.s Bauten in Georgien an. Ausgerechnet in diesem Land gibt es die höchste Konzentration von Gebäuden mit der Mayer H.’schen Architekturästhetik: eine Grenzstation, ein Flughafenterminal, eine Polizeistation und ein Bürgerhaus, das an mittelalterliche Wehrtürme erinnert. An der georgisch-türkischen Grenze sticht sein gekurvter Bau einer Grenzkontrollstation aus dem ländlichen Kontext hervor. Wie ein gebautes Willkommenszeichen für das aufstrebende »neue Georgien« bietet der exaltierte Neubau weite Terrassen mit Aussicht auf das nahe Schwarze Meer.

Des Baumeisters Opus Magnum bleibt einstweilen jedoch seine Wolkenpromenade in Sevilla. Die »Metropol Parasol« genannten hölzernen Riesensonnenschirme über der Plaza de la Encarnación in der spanischen Stadt basieren auf einem orthogonalen Steckraster aus Holzelementen. Etwa 3.000 Kubikmeter finnische Fichte wurden in den sechs Riesenstützen und dem Dach verbaut, das wiederum wie die Mensa in Karlsruhe mit cremefarbenem Polyurethan überzogen wurde. Das Wolkendach, eine riesige urbane Skulptur, wurde zum neuen Wahrzeichen der Stadt: in bis zu 28 Meter Höhe kann man auf den Schirmen vom PanoramaRundgang auf die Dächer der Altstadt schauen – und träumen.

Von Ulf Meyer

Was an Idee und Form ist weiterführend brauchbar? | O&O Baukunst

O&O Baukunst
Was an Idee und Form ist weiterführend brauchbar?

Was an Idee und Form ist weiterführend brauchbar?

O&O Baukunst – Ein Architekturbüro mit fast 50-jähriger Bautradition

Legendär sind die Rauminterventionen und künstlerischen Experimente, die Ende der 1960er Jahre durch Haus-Rucker-Co auf den Weg gebracht wurden. Ende der 1980er Jahre kommt es zur Gründung des Architekturbüros Ortner&Ortner Baukunst in Düsseldorf, wo Laurids Ortner viele Jahre als Professor für Baukunst an der Kunstakademie tätig ist. Seit 1990 ist Ortner&Ortner Baukunst in Wien, seit 1994 in Berlin vertreten. 2006 wird unter der Leitung von Christian Heuchel auch ein Büro in Köln eröffnet. 2011 präsentiert sich das Büro unter dem Namen O&O Baukunst mit fünf jungen Partnern. Das »MuseumsQuartier« in Wien oder aktuell das Landesarchiv NRW im Duisburger Hafen sind nur zwei Projekte, die beispielhaft für die architektonische Haltung von O&O Baukunst stehen.

O&O Baukunst
Standorte: Berlin, Köln, Wien
Gründungsjahre: Haus-Rucker-Co: 1967 in Wien, Ortner&Ortner Baukunst: seit 1987 in Düsseldorf, 1990 in Wien, 1994 in Berlin und 2006 in Köln
O&O Depot: seit 2011 in Berlin
O&O Baukunst: seit 2011 in Berlin, Köln und Wien
Gesellschafter: Manfred Ortner, Laurids Ortner, Roland Duda, Christian Heuchel, Harry Lutz, Florian Matzker, Markus Penell
Schwerpunkte: Kultur, Shopping, Büros, Hotels, Wohnen, Städtebau, Interieur, Bauen im Bestand und Nachhaltiges Bauen
Mitarbeiter: 40

www.ortner.at

»Was bringt uns weiter? Alle Auseinandersetzung mit Architektur lässt sich rasch herunterbrechen auf die Frage: Was an Idee und Form ist weiterführend brauchbar?«

Anlässlich der Podiumsdiskussion »Chiricos Nachmittag« im Kölner KAP Forum sprachen Manfred Ortner und Christian Heuchel über ihre Positionen. Für den gemeinsamen Abend in Köln suchten sie nach einem adäquaten Ambiente,um sich über Baukunst zu unterhalten. Sprechen über Architektur in einprägsamer Atmosphäre ist für sie der beste Weg der Architekturvermittlung. Das Format des Tischgespräches schien ihnen am angemessensten zu sein. Drei schwarze Ledersessel, gruppiert um einen runden Tisch, auf dem die Bücher des Büros zu finden sind. Unter den Füßen ein weicher, handgewebter Perserteppich. Licht aus gedimmten Lampenschirmen über dem Rauchtisch unterstreicht die heimelige Atmosphäre. Das Publikum verschwindet im Dunkel. Vertrautheit und Gemütlichkeit, die einen befreiter sprechen lässt. Subversiv werden die eigenen Inhalte in kleinen Dosen dem Publikum eingeflößt.

»Unser Architekturbüro hat ein fast prähistorisches Alter. Es sammeln sich über die Jahre hinweg kulturelles architektonisches Wissen, Erfahrungen im alltäglichen Baukampf und grandios verlorene Wettbewerbe an. Sie füllen unser O&O Depot in Berlin. Dieses wird nun an die Jungen weitergegeben. Über den »osmotischen« Austausch diffundiert die architektonische Haltung, so die Hoffnung. Ein wichtiger Begriff dafür ist »borrow«. »Borrow« steht für »borgen«, was »ausleihen« UND »zurückgeben« bedeutet. Wer nicht borgt, ignoriert historische Lernprozesse. Das Neue soll Anregung borgen, um den Formenschatz anzureichern. Wir wollen bauen über die Zeit hinaus. Jenseits des Zeitgeistes. Dabei helfen uns die »10 Hinweise für eine bessere Architektur« aus dem Jahre 2008. In ihrer Offenheit und ihrer Leichtigkeit sind sie zu einem permanenten Begleiter in unserem Büroalltag geworden.«


10 Hinweise für eine bessere Architektur:

1. Nichts erfinden
2. Alles mischen
3. Künstler fragen
4. Einfaches verfeinern
5. Fremde Ideen weiterspinnen
6. Rätselhaft bleiben
7. Altes umarmen
8. Hülle von Inhalt trennen
9. Großzügig probieren
10. Lernen von der großen Zahl

(Quelle: Ortner&Ortner Baukunst, »10 Hinweise für eine bessere Architektur«, 2008)

 

»Am Ende steht der Bau als öffentliche Kunst mit langfristiger Wirkung und großem Einfluss allein da mit seiner Verantwortung. Für uns ist das Landesarchiv NRW in Duisburg ein gutes Beispiel für unser Denken. Das Archiv zeigt sich heute zur Autobahn A 40 hin als markante ziegelrote Baufigur. Das vorhandene Speichergebäude aus den 1930er Jahren wird durch einen 76 m hohen Archivturm im Zentrum ergänzt. Das 148 Regalkilometer lange Archivgut des Landes kann nun prägnant sichtbar und in Gänze aufgenommen werden. Der neue Speicherturm setzt sich mit feiner Ornamentierung von der alten Klinkerstruktur ab. Im Innern des Foyers blickt man über große »Bullaugen« in das gesammelte Archivmaterial. Hier wird Speicherfähigkeit gezeigt. Was sich hier ablagert aus der Alltäglichkeit vergangener Tage, setzt sich in der gebauten Masse als feine Schwingung fest. Emotionale Schwingungen, die auch durch das Zumauern der 250 vorhandenen Fenster des historischen Gebäudes freigesetzt werden. Jetzt, wo diese kräftige Ursprungsidee des Wettbewerbes Realität wird, stellen sich die Nackenhaare auf beim Betrachten dieser Radikalität.«

»Wer das Gebäude einmal gesehen hat, wird es nie wieder vergessen.«

»Derart einmalige Lösungen versuchen wir seit 2006 auch in Köln umzusetzen. Berühmt berüchtigt ist unser Entwurf der sechs Triangeltürme, im Volksmund »Müngersdorfer Manhattan« genannt. Eine geschickte Verdichtung auf dem ehemaligen RTL-Gelände an der Aachener Straße. Ebenso bemerkenswert: unser Entwurf für einen neuen Firmensitz in Köln-Deutz als kühne, auf Betonkernen schwebende Glas-Stahl-Konstruktion sowie für den Breslauer Platz am Rheinufer die urbane, hoch verdichtete Blockbebauung mit prägnantem »Domfenster«.

In Köln werden in Zukunft 20.000 neue Wohnungen benötigt. Es scheint heute eine unlösbare Aufgabe zu sein, attraktiven und zeitgemäßen Wohnraum bereitzustellen.«

»Ist die europäische Stadt Köln an ihre Grenzen gekommen? Wie soll es weitergehen mit der Speicherfähigkeit der Stadt?«

»Eine Möglichkeit besteht darin, die vielen urbanen Lücken homogen zu schließen. Dies birgt für die Stadt besondere Qualitäten. So verbindet sich Vorhandenes fast lautlos, ohne dass die eigenen Inhalte alles andere übertönen.«

Helena Feldmann-Fischer sprach mit Christian Heuchel, Gesellschafter O&O Baukunst.

Chiricos Nachmittag
Podiumsdiskussion im KAP Forum

Wie lange sind wir schon auf der Suche nach diesen Bildern? Bilder, die das fast Normale herüberbringen, die eine Wirklichkeit zeigen, bei der man die Szenen schon einmal gesehen zu haben meint, ohne zu wissen, wo und wann. Bilder, die all das Bekannte und Vertraute in eine geringfügig verschobene nächste Ebene kippen und sie mit einem Mal rätselhaft und fremd machen. Braucht es dazu ständig fließenden Regen wie in »Blade Runner«, oder die flackernden Straßenfeuer, die es in Neapel gab, wenn es kalt wurde? Wohin haben sich Chandler’s Typen verdrückt? Wo ist endlich die Bar von Hopper’s Nighthawks? War das nicht die Stadt, die einzige, in der es aufregend genug war, nur da zu sein; die sich nie aufdrängte und außer dichter Fremde keine extra Eigenschaften hatte? Keine Frage, es sind die Bauten, die den Ton angeben, die Stimmung machen. Wenn jemand von Atmosphäre, von Energie der Stadt spricht, so spricht er von der Baumasse, die im Hintergrund die Dinge davor zum Tanzen bringt. Wie immer sind es Schriftsteller, Maler, Filmer, Photographen, auch Philosophen, die von dieser Eigenschaft, diesen Stimmungen, die da ausgelöst werden können, berichten. Eigentlich alle, außer den Architekten, die auf der Jagd nach dem Neuen eben angestrengt dabei sind, die nächste spektakuläre Hülle zu erfinden.

Der Ort, das Umfeld, die Aufgabe geben vor, was angemessen ist. Eklektisch ist dabei gar nichts. Immer ist ein anderer, direkterer Weg zu finden. In Europa haben wir uns da mit grandiosem Erbe zu arrangieren, Altes mit Neuem zu flicken, beides zu einer anderen Einheit zu verschmelzen. Und ganz selbstverständlich schiebt sich da die überragende Qualität des Mediterranen ins Zentrum. Für uns nichts Neues. Chirico ist unser Patenonkel, seit wir seinen Namen buchstabieren konnten. Wie viele Nachmittage im Herbst haben wir auf der Piazza d’Italia mit ihm verbracht. Die Luft ist dann schon deutlich kühler, das Licht hat endlich seine Schleier abgestreift. Alles weit hinten ist jetzt so scharf wie die Dinge ganz vorne. Und der Strich zwischen Himmel und Meer pechschwarz. Klare steinerne Bauten um uns, von tiefer Sonne mit allen Kanten golden beleuchtet. Unmittelbar daneben mit langen blauen Schatten die kompakte zweite Welt.

Laurids Ortner, »Chiricos Nachmittag«

»Bitte Freunde, keine neuen Sensationen, lasst uns doch endlich mit dem Repertoire arbeiten, das wir jetzt ungeniert verwenden dürfen: mit allem, was von der Antike bis zur Moderne brauchbar ist.«

Das Landesarchiv NRW

Es zeigt sich zur Autobahn und zum Innenhafen als markante ziegelrote Baufigur. Das vorhandene Speichergebäude aus den 1930er Jahren wird durch einen Archivturm im Zentrum ergänzt. Das Archivgut des Landes kann nun prägnant sichtbar und in Gänze aufgenommen werden. Die Öffnungen und die Dachflächen des bestehenden Speichers werden geschlossen. Der neue Speicherturm setzt sich mit feiner Reliefierung von der alten Klinkerstruktur ab. Das Gebäude nimmt Archivalien in insgesamt 148 Kilometern Regalen auf.

Das Foyer liegt im Schnittpunkt des Speichers und der Büroflächen. Es entsteht ein angemessener Eingang für das neue Landesarchiv. Das Foyer und die öffentlichen Bereiche öffnen sich zur Uferpromenade. Im Innern des Foyers blickt man über große Öffnungen in das gesammelte Archivmaterial. Von hier aus wächst der Neubau nach Osten in das Baufeld hinein. Im fünfgeschossigen Anbau, der sich mäandernd entlang des Innenhafens erstreckt, sind Foyer, Verwaltung und zusätzliche Funktionen untergebracht.

Von Helena Feldmann-Fischer

HHF Architekten | Basel

KAP Magazin #8
HHF Architekten

Das Einfache liegt dem Komplexen zu Grunde

HHF Architekten
Das Einfache liegt dem Komplexen zu Grunde
Aus dem KAP Magazin #8

Standort: Basel
Gründungsjahr: 2003
Inhaber: Tilo Herlach, Simon Hartmann, Simon Frommenwiler
Schwerpunkte: Architektur und Städtebau
Mitarbeiter: 25 – 30
hhf.ch

Beitrag aus dem KAP Magazin #8

28.02.2013
EINBLICKE #02
3×30 Minuten

Natürlich hütet jedes Büro sein Geheimnis, etwas, das den Erfolg ausmacht und eben nie ganz zu erklären ist, im Gegensatz zu einem ausgefeilten Ablagesystem für Daten. Vielleicht liegt ein Teil dieses Geheimnisses von HHF Architekten Basel an einem gewissen Ungenügen, einer inneren Unruhe, die sich nicht zufrieden gibt mit dem Naheliegenden, der sicheren Lösung, der vertrauten Umgebung oder bekannten Materialien. Tilo Herlach, 40, Simon Hartmann, 39, und Simon Frommenwiler, 40, arbeiten und denken international und sind gedanklich längst über Basel, die Schweiz, Mitteleuropa hinausgewachsen. Sie vernetzen und schlagen Wurzeln in anderen Erdteilen, anderen Kontexten, anderen Mentalitäten.

Auf der Homepage von HHF findet sich ein schönes Arbeitsfoto der drei Inhaber am Besprechungstisch. Im Hintergrund Tabellen, Aufrisse, Simulationen, doch die drei sind abgetaucht in eine eigene Welt. Sie bereden einen Entwurf, der für den Betrachter unsichtbar auf Simon Frommenwilers Notebook liegt. Drei konzentrierte Blicke, drei Haltungen. Tilo Herlach wirkt wie auf dem Sprung, Simon Hartmann stützt seinen Arm lässig auf die Stuhllehne, während Simon Frommenwiler hoch konzentriert am Notebook präsentiert. Kabel quellen unter dem Rechner hervor, laufen auf den Betrachter zu, scheinen die Gedanken der drei zu verbinden mit der Welt. Ja, dieses Bild fängt etwas von der Atmosphäre ein, die bei HHF herrscht. Lässigkeit braucht Präzision. Und umgekehrt.

»Wie sollte man ihre Arbeiten anders beschreiben als eine unglaubliche Mischung aus, ja, das klingt nun wie ein Klischee, schweizerischer Präzision und enormer Freiheit.«

Wie sollte man ihre Arbeiten anders beschreiben als eine unglaubliche Mischung aus, ja, das klingt nun wie ein Klischee, schweizerischer Präzision und enormer Freiheit.

Oder sollte man sagen: Offenheit für den Ort und seine Menschen? Ihre Häuser, Pavillons und Entwürfe für den öffentlichen Raum sind eben nicht nur stringent an einer Entwurfsidee ausgerichtet (Öffnung und Licht, Tragen und Befreien, Ordnung und Brechung derselben), sondern vielschichtig. Da ist oft eine faszinierende Form, etwa der Aussichtspunkt für die populäre Pilgerroute Mexikos, die »Ruta Peregrino« im Bundesstaat Jalisco: scheinbar schnell zu erfassen, doch vertrackt in der Überschneidung mehrerer Kreissegmente, die bei näherer Betrachtung immer komplexer, reicher werden, eher einem Rhythmus im Raum gleichen als einer festgezurrten Konstruktion. Man kann es auch umgekehrt auffassen, und das macht zu keinem geringen Teil den Reiz vieler Projekte aus. Da ist eine hoch komplexe Raumfügung aus verschnittenen Ellipsoiden, Kreissegmenten und Linien. Diese Überlagerung regt an, um die Ecke zu blicken, neue Perspektiven in sich aufzunehmen. Und was steckt dahinter? Ein ganz rational geplanter Bau, der sich wie eine Fibonacci-Schnecke in die Höhe entwickelt und die Besucher förmlich nach oben reißt.

Nirgends lässt sich das mit solcher Bestimmtheit sagen wie beim »Baby Dragon«, einer Spielskulptur für Kinder innerhalb des »Jinhua Architecture Park«. Ein geheimnisvolles Gebäude erhebt sich, ein Pavillon, eine Gräberwand? Auf jeden Fall Beton mit rötlichen Zuschlagstoffen, perforiert wie ein – Pardon – Schweizer Emmentaler. Elf verschiedene Formen machen das Repertoire aus, wodurch »nahezu unendliche Kombinationsmuster möglich sind«. Ähnliches lässt sich über das Modezentrum »Labels 2« in Berlin sagen, das verwirrend und einfach zugleich auftritt. Tragwerk und Fassade sind eine Variation über zwei verschieden geschnittene Sinuskurven. Die NZZ jubelte: Für die Architekturszene Berlins sei »Labels 2 Meilenstein und Signal des Aufbruchs zugleich.« Abschließend meint Hubertus Adam: »HHF zählen zu den hoffnungsvollsten Talenten der jungen Schweizer Architektur.« Das war 2010, und längst sind aus den Hoffnungsträgern Baumeister von internationalem Rang geworden.

Von Oliver Herwig

Allmann Sattler Wappner | München

KAP Magazin #8
Allmann Sattler Wappner
Oder der permanente Wettbewerb

Allmann Sattler Wappner
Oder der permanente Wettbewerb
Aus dem KAP Magazin #8

Standort: München
Gründungsjahr: 1993
Inhaber: Prof. Markus Allmann,
Amandus Sattler, Prof. Ludwig Wappner
Schwerpunkte: Das gesamte Spektrum architektonischen Gestaltens
Mitarbeiter: 60
allmannsattlerwappner.de

Beitrag aus dem KAP Magazin #8

04.03.2010
STRUKTURELLE OFFENHEIT
AMANDUS SATTLER

Lange Zeit galten sie als Nachwuchsstars der Architekturszene, manchen gar als deutsches Pendant zu Herzog & de Meuron. Auch Allmann Sattler Wappner bürgen mit ihren Namen, auch sie verabscheuen technische Kompromisse, auch sie deklinieren jede Bauaufgabe so durch, dass ein Thema sichtbar wird. »Die Arbeitsfelder des Büros umfassen das gesamte Spektrum architektonischen Gestaltens«, heißt es ganz selbstverständlich auf der Homepage.

Der Ansatz: ganzheitlich. Der Anspruch: hoch.

Den Durchbruch brachte ein gewonnener Wettbewerb. Das Samuel-von-Pufendorf-Gymnasium in Flöha von 1996 wirkt noch immer frisch und stimmig, als Gegenstück zu einer seelenlosen Lernmaschine namens Schule. Als Ort, der Begegnung stiftet und Menschen zusammenbringt. Es hagelte Lob: Architekturpreis des Neuen Sächsischen Kunstvereins 1994. Lobende Anerkennung: Deutscher Architekturpreis Beton 1997.Sowie lobende Erwähnung: Deutscher Architekturpreis 1997. Das Büro ist seither gewachsen auf rund 60 Mitarbeiter, die es mit Aufträgen zu füttern gilt. Und diese stammen zumeist von Wettbewerben. Mitten in Münchens Nymphenburger Straße schnurrt also ein Wettbewerbsmotor. Ein eingespieltes Team, das in erstaunlich kurzer Zeit erstaunlich  einprägsame  Entwürfe  liefert. Kein Wunder, dass sich Markus Allmann (geboren 1959 in Ludwigshafen), Amandus Sattler (geboren 1957 in Marktredwitz) und Ludwig Wappner (geboren 1957 in Hösbach) von Anfang an für den Wettbewerb als beste Form der Ideenfindung einsetzten.

»Ferrari unter den Gotteshäusern«

20 Jahre sind eine lange Zeit. Oder verdammt kurz, wenn man noch einiges vorhat. Ein Blick auf die Typologien ihres Bauens zeigt Familienbande und Entwicklungslinien, aber vor allem Individuen. Bereits früh entwickelte sich das Œuvre von Allmann Sattler Wappner erstaunlich vielfältig und fern jedes Formalismus: Wohnungsbauten (darunter das »Haus der Gegenwart« des Süddeutschen Verlags), Städtebau (etwa der sensationelle Entwurf für die Werkbundsiedlung München, ungebaut, wie übrigens auch der Wettbewerbsgewinner Kazunari Sakamoto), Kirchen (das symbolisch aufgeladene, gläserne »Herz Jesu« in Neuhausen für den ersten Ortspfarrer angeblich ein »Ferrari unter den Gotteshäusern«), Firmensitze (etwa ein wagemutiger Entwurf für Loewe, unrealisiert, sowie ein spektakuläres Metallensemble in Reutlingen für den Arbeitgeberverband Südwestmetall) und Einkaufszentren (darunter der reinweiße, sehr modische Umbau der Stachus-Einkaufspassagen im Herzen von München).

Viele Bauten, kein wiederkehrender Duktus, kein Repertoire an Stilmitteln, die dem Kenner sofort vermeldeten: Allmann Sattler Wappner. Einige Gebäude seien sogar stillos, unkte einmal ein Architektenkollege. Prompt sahen die drei Geschäftsführer darin ein großes Lob. »Das war mit das Schönste, was über unsere Gebäude je gesagt wurde«, entgegnete Vordenker Markus Allmann. Wie aber sind die Rollen der drei Partner verteilt? Wie spielen sie sich die Bälle zu? Beredtes Schweigen. In den Vordergrund drängen mag sich niemand. Die drei Geschäftsführer haben entschieden, dass persönliche Fragen tabu sind, ihr Büro soll sich einzig über die Arbeiten darstellen. Privates und Bürointerna taugen nicht für draußen.

Von Oliver Herwig