Die Welt im Umbruch
Wertschöpfungsperspektiven 2030
Aus dem KAP Magazin #7

Wir leben in einer bewegten Zeit, Umwälzungen und Brüche scheinen an der Tagesordnung zu sein. Die Volatilität an den internationalen Kapitalmärkten ist noch lange nicht ausgestanden, die Unruhen in der arabischen Welt dauern an, technologische Umbrüche in Verbindung mit digital vernetzten und bestens informierten Kunden erzwingen Veränderungen der Geschäftsmodelle. Unsicherheiten gehören mittlerweile zum Alltag. Wie gelingt es in einem solchen Umfeld, Wertschöpfung und Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten?

Diese Frage hat sich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) gestellt. Unter Federführung vom BDI-Arbeitskreis »Wertschöpfungsorientierte Innovationsstrategien« ist eine Studie entstanden. Sie identifiziert grundlegende Disruptionspotentiale und analysiert in der Perspektive bis 2030, welche Auswirkungen solche Disruptionen potenziell auf die Wertschöpfungsstruktur in Deutschland haben und wie zukünftig Forschungs- und Innovationspolitik aussehen muss, um den Standort zukunftsfähig zu machen.

Die Atomkatastrophe von Fukushima und die Energiewende in Deutschland waren ein Fanal: Deutschland, Europa und die Welt befindet sich in einer Phase rasanter Veränderung. Die Dynamik, die sich im Finanz­ und Währungssektor, bei ökologischen und demografische Fragen zeigt, dazu die hohe Volatilität in vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen, all dies spricht für eine Zukunft, in der der Wandel nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein wird. Eine Zukunft voller Umwälzungen und Brüche scheint bevorzustehen. Das ist die Grundannahme der aktuellen Studie »Deutschland 2030 – Zukunftsperspektiven der Wertschöpfung«, beauftragt vom BDI.

Eine Zukunft voller Umwälzungen und Brüche scheint bevorzustehen.

Darin zeigt sich, dass neue Formen eines konstruktiven und kooperativen Zusammen­wirkens von Politik, Gesellschaft und Wirt­schaft notwendig werden. Diese Koopera­tionen sollten idealerweise auch in zukunfts­fähigen Geschäftsmodellen der Unter­ nehmen ihren Niederschlag finden. Die wichtigsten Ergebnisse des Projekts werden im Folgenden zusammengefasst.

Klassische Branchengrenzen werden ver­schwinden, dafür entstehen neue, über­ greifende Handlungsfelder und Koopera­tionsformen. Beim Thema Gesundheit beispielsweise geht es um den Einzelnen innerhalb großer Patientengruppen, um seine genetische Ausstattung, sein Verhal­ten und sein individuelles Lebensumfeld. Die personalisierte Medizin wird dem Rech­nung tragen. In der Forschung setzt sich interdisziplinäres Denken endgültig durch, Branchen stehen sich nicht mehr fremd gegenüber, sondern kooperieren, sofern sie an einem gemeinsamen Geschäfts­modell partizipieren (Win­Win­Situation). Es entstehen maßgeschneiderte Angebot­spakete aus Produkten und Services, klas­sische Sektoren verlieren zunehmend an Bedeutung. Bei Gesundheit, Ernährung und Kosmetik zum Beispiel ist mit der Bildung neuer, zielgerichteter Allianzen zu rechnen.

Nicht mehr das Auto als Symbol des Individualverkehrs steht im Mittel­punkt, sondern die Bereitstellung intelli­genter und verkehrsträgerübergreifender Mobilität.

Die Wertschöpfung im Jahr 2030 verlangt laut Studie nach einem systemischen und ganzheitlichen Verständnis von Innovati­on. Veranschaulicht am Beispiel Mobilität heißt das: Nicht mehr das Auto als Symbol des Individualverkehrs steht im Mittel­punkt, sondern die Bereitstellung intelli­genter und verkehrsträgerübergreifender Mobilität. Entscheidend ist, Qualitätsziele zu definieren: Welche Mobilität wollen wir eigentlich, zu welchem Preis und zu welchen Konditionen? Neue Akteure werden den Markt betreten: Produzenten von postfossilen Antriebssystemen oder Batterien, Energie­ und IT­Anbieter. Städte und Regionen übernehmen mehr Ver­antwortung und definieren den öffentli­chen Verkehr als integralen Bestandteil internationaler Mobilität neu. Vernetzte Informationsdienste machen nahtlose Mobilität über alle Verkehrsträger hinweg erst möglich.
Die allgegenwärtige Informatisierung wird sich tendenziell in sämtlichen Branchen und Lebensbereichen durchsetzen. Es entsteht ein Internet der Dinge, in dem nicht nur Menschen, sondern auch Objekte selbstän­dig Informationen austauschen werden. Die Perspektive ist eine autonome und globale Steuerung dezentraler Produktionsprozesse in Echtzeit. Die physische und digitale Welt werden verlinkt. Wissensbasierte Systeme helfen, die sich abzeichnende Komplexität zu beherrschen. Die Verschmelzung der Sys­teme birgt gewaltige Potenziale, aber auch Risiken. Die IT­Sicherheit wird folglich in der Zukunft eine große Rolle spielen.

Ob Energiewende, Steigerung der Ressourceneffizienz oder Kreislaufwirtschaft, eine zukunftsfähige Innovationsstrategie wird vielseitige und unkonventionelle Ansätze berücksichtigen.

Die Wertschöpfung der kommenden zwei Jahrzehnte schließlich wird von nachhalti­gen Lösungen geprägt. Deutschland ist eine rohstoffarme Industrienation. Die Versor­gungssicherheit ist und bleibt ein Thema mit hoher Priorität. Ob Energiewende, Steigerung der Ressourceneffizienz oder Kreislaufwirtschaft, eine zukunftsfähige Innovationsstrategie wird vielseitige und unkonventionelle Ansätze berücksichtigen. Dabei liegen im Bereich der nachhaltigen Infrastruktur durchaus Exportchancen. Das gilt für Kraftwerk-Technologien, für Spei­chersysteme im Kontext des Smart Grid (intelligente Stromzähler, Anm. d. Red.) und für die Energieeffizienz –Wachstumsmärkte des 21. Jahrhunderts.

Die künftige Geschäftslogik bedarf einer Neuausrichtung der Stakeholder­ und Kun­denbeziehungen. Bereits heute haben Kunden­Communities im Internet erheb­lichen Einfluss. Ihre Stärke liegt in der Offenheit der Kommunikation. Die Positi­onen im Markt, geprägt von Produzenten, Zulieferern, Kunden und NGOs – sind bereits in Bewegung. Unternehmen können dieser Dynamik zum Opfer fallen, sie können diese aber auch zu ihrem Vorteil nutzen. Erfolg­reich wird sein, wer die Fähigkeit besitzt, neue Allianzen zu schmieden. Aber Vorsicht: Prozesse zu steuern wird infolge wachsen­ der Komplexität immer schwieriger. Auch deshalb ist eine emotionale Kunden­ und Markenbindung als sehr wichtig einzustufen. Zukunftsorientierte Produkte und Dienst­leistungen, zum Beispiel für die alternde Gesellschaft, erfordern eine Kommunikati­on, die nicht nur über Branchengrenzen hin­ ausgreift, sondern den Kunden als Innovator einbezieht.

Der Wandel, so die Schlussfolgerungen aus dem Projekt, wird häufig durch neue wissenschaftlich-­technische Erkenntnisse ausgelöst. Die Umsetzung im Markt ge­schieht aber nur unter der Voraussetzung, dass entsprechende Infrastrukturen, Rah­menbedingungen und Geschäftsmodelle vorhanden sind. Chancen und Risiken der Wertschöpfung im Jahre 2030 werden sich deshalb nicht zuletzt auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen. Im Zentrum der Wirt­schaft steht der Mensch. Für ihn muss es eine Brücke von der alten in die neue Welt der Beschäftigung geben.

Paradigmenwechsel der Wertschöpfung

Eine genauere Betrachtung der Ergebnisse aus einer branchen-­ und unternehmensüber­greifenden Perspektive lässt allgemeine Mus­ter erkennen. Fünf zentrale Erkenntnisse zum langfristigen Wandel der Wertschöpfung, sogenannte Paradigmenwechsel, werden im Rahmen des Projekts identifiziert. Dabei zeigt sich: Die Dinge werden nicht einfacher, sondern komplizierter. Und die Volatilität nimmt zu.

 

1. Branchenübergreifendes Kooperationsmanagement wird zum kritischen Erfolgsfaktor in wertschöpfungsorientierten Innovationssystemen

Die Grenzen zwischen den Branchen sind schon jetzt längst in Bewegung geraten. Der entscheidende Schritt in die Zukunft ist eine offensive Vernetzung innerhalb traditionel­ler Branchen sowie mit neuen Branchen. Daraus erwachsen Innovationen und neue Geschäftsmodelle. Wenn es um preisgüns­tige, unkomplizierte und nahtlose Mobilität für den Kunden geht, sind Akteure aus der Automobilbranche, dem Energiesektor und der IT­Branche ebenso gefragt wie Vertreter von Städten und Kommunen. Schließlich müssen auch Elektroautos parken – und ganz nebenbei aufgetankt, oder präziser: aufgeladen werden. Der Übergang vom Auto zum Flugzeug oder zum Fahrrad sollte leicht und entspannt zu realisieren sein. Dafür braucht es Plattformen mit vielfältigen Kompetenzen und die Fähigkeit zur Gestal­tung von Produkt­Service­Innovationen, sowie nicht zuletzt das aktive Management der Schnittstellen in den neuen, hybriden Wertschöpfungsstrukturen.

Es ist davon auszugehen, dass einzelne Unternehmen alleine tendenziell nicht mehr in der Lage sein werden, die entscheiden­ den Innovationen am Markt durchzusetzen. Gewinner wird sein, wem es gelingt, die we­sentlichen Stakeholder für gemeinsame Stra­tegien zu gewinnen. Es gilt, die Kompetenz von internen und externen Wissensarbeitern einzubringen – und das flexibel und projekt­bezogen. Dabei wird es um Partnerschaf­ten auf Zeit gehen und die Akzeptanz von Lösungen für den Benutzer.

Einzelne Unternehmen alleine werden tendenziell nicht mehr in der Lage sein, die entscheiden­ den Innovationen am Markt durchzusetzen.

2. Auf dem Weg von der partikularen zur ganzheitlichen Innovation

Systeminnovationen über Branchengrenzen hinweg und die Entwicklung integrierter Wertschöpfungsketten haben eine ent­ scheidende Voraussetzung: die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Die nahtlose Mobilität verlangt von Akteuren aus unter­ schiedlichen Branchen, dass sie Pakete aus Produkten und Dienstleistungen schnüren. Sie bestehen zum Beispiel aus Fahrzeugen, dazu aus Real­Time­Verkehrsinformationen, Verkehrsleittechnik, Zugangstechnik und anderen Services. Neue Geschäftsmo­delle müssen dem Rechnung tragen. In vielen Fällen kommt es zu einer breiteren Streuung von Gewinnen, aber auch von Risiken, Letztere sind z. B. das Auftauchen neuer Akteure aus den Emerging Markets oder auch die Unfähigkeit der Unternehmen angepasste Geschäftsmodelle auf Basis von Wertschöpfungspartnerschaften zu entwickeln.

In der deutschen Innovationslandschaft von heute dominieren Produkte, Dienstleis­tungen und Prozesse. In Zukunft werden von Beginn an Geschäftsmodelle stärker betrachtet werden, und in diesem Zusam­menhang auch Finanzierungsinstrumente und ­-kriterien. Entscheidend ist die Pers­pektive des Nutzers.

3. Nachhaltige Innovationen werden zum zentralen Hebel der Wertschöpfung

Wenn das fossil gestützte Weltenergiesys­tem langfristig dekarbonisiert werden muss, also Kohlenstoffemissionen zu vermeiden sind, und wenn Knappheit bei Rohstof­fen eine ressourcenextensive Ökonomie verlangt, dann wird kein Wirtschaftszweig sich dem entziehen können. Nicht nur ökologische, auch soziale Anforderungen, dazu Innovationen auf technischem wie gesellschaftlichem Gebiet bringen den Prozess voran. Zug um Zug wird sich das Thema Nachhaltigkeit in allen Märkten durchsetzen, eine Entwicklung, die traditi­onelle Branchengrenzen verwischen und neue Wertschöpfungscluster entstehen lassen wird. Auf Seiten der Unternehmen gewinnen neue Instrumente an Bedeutung, die dem ganzheitlichen Ansatz der Nach­haltigkeit Rechnung tragen. Zukunftsfähige Innovationen werden dann zum zentralen Wachstumstreiber im Land.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass reale Knappheiten und veränderte Wertvor­stellungen den Umbruch einleiten werden, der neuen ökonomischen Notwendigkeiten entspricht. Stoffströme und Austauschpro­zesse der Wirtschaft werden neu konfigu­riert, weil längerfristige Knappheit mehr und mehr ins Bewusstsein dringt.

Unternehmen werden in zunehmend komplexeren Produkt­ und Dienstleistungs­systemen agieren.

4. Bildung neuer Interessensallianzen – vom Shareholder Value zum Stakeholder Value

Unternehmen werden in zunehmend komplexeren Produkt­ und Dienstleistungs­systemen agieren, neue Geschäftsmodelle werden, wie bereits erwähnt, erforderlich. Diese müssen zudem ihre geschäftlichen Aktivitäten stärker mit unterschiedlichen Interessengruppen abstimmen, um ihre Legitimation auf Wertschöpfung (licence to operate) zu erhalten. Ein Beispiel sind die bereits erwähnten Kunden­Communities im Internet, die die Position des Endnutzers im Markt erheblich stärken.

Die Gewinnorientierung von Unternehmen bleibt zwar, so die Annahmen, konstituie­rend, aber sie unterliegt öffentlichen Debat­ten. Die Kongruenz von Gewinnorientierung und Gemeinwohl-Orientierung steht immer wieder im Mittelpunkt der Diskussion, über­haupt geraten geschäftliche Aktivitäten zunehmend unter sozialen Rechtfertigungs­druck. Aus all dem ergibt sich in Zukunft die Notwendigkeit, die verschiedenen Stakeholder – gesellschaftliche Gruppen, NGOs, vor allem aber die Kunden – in die Geschäftsprozesse frühzeitig einzubinden. Innovationen werden dadurch erleichtert. Unterbleibt die Kommunikation, kommt es leicht zu Akzeptanz-Problemen im Verhältnis zu Politik und Gesellschaft. Das wird aktuell bereits bei der Planung neuer Energieinf­rastruktur deutlich, etwa Standortdebatten bei Windkraftanlagen und neuen Stromt­rassen. Firmen müssen jetzt und zukünftig lernen, sich in diesem Spielfeld zu bewegen und die Erwartungen und Einwände der verschiedenen Anspruchsgruppen auszu­balancieren.

Unternehmen, vor allem in konsumenten­nahen Märkten, werden belohnt, wenn es ihnen gelingt, Kunden und Stakeholder auf verschiedenen Stufen der Wertschöpfung – in der Entwicklung, der Produktion oder im Vertrieb – aktiv einzubeziehen.

5. Wandel von klassischen Planungsprozessen hin zum Management und zur Steuerung von Komplexität

Trotz sich abzeichnender Veränderungen werden Märkte jedoch immer weniger plan­bar. Unsicherheiten und Instabilitäten im Wettbewerbsumfeld werden Teil der neuen Normalität. Sie zu steuern wird zur zentralen Herausforderung, damit aber nicht genug: Auch weiterhin werden Rohstoffpreise schwanken, politische Rahmenbedingun­gen variieren, Wirtschaftszyklen schneller verlaufen. Krisenhafte Perioden werden sich abwechseln mit Boomphasen; die Verletzlichkeit der zunehmend virtuellen Geschäftsprozesse nimmt also zu. Cyber-At­tacken sind eine permanente Bedrohung, ein nicht zu unterschätzendes Problem, dem es mit adäquaten Lösungen entgegen­ zutreten gilt.

Die Perspektive: Unternehmen können auf die hohe Volatilität reagieren, indem sie sich darauf einstellen, bei Rohstoffen zum Beispiel langfristige Absprachen zu tätigen. Auch, indem sie ihre Märkte einem perma­nenten Monitoring unterziehen und ihre eigene Reaktionsgeschwindigkeit erhöhen. Dies kommt einem Systemwechsel gleich: weg vom klassischen Planungsprozess hin zur Steuerung von Komplexität, etwa durch die Vernetzung unterschiedlicher System­ komponenten und Akteure. Entsprechend verändern sich auch die Organisationsfor­men: weg von der linear­hierarchischen Struktur hin zum Management von Kapital­, Waren­ und Stoffströmen in dezentralen Netzwerken. Der Gravitationspunkt der Wertschöpfung wird sich dabei in Richtung auf die »Intelligenz« (Software, Brainware) von Produkten bewegen, auf die Akzeptanz der Nutzungskonzepte und neue serviceori­entierte Geschäftsmodelle.

 

von Klaus Burmeister

Der Autor: Klaus Burmeister – Gründer und Geschäftsführer von foresightlab – hat maßgeblich an der Studie mitgewirkt.