Schluss mit der saturierten Bequemlichkeit!

Peter Ippolito über starre Arbeitsmaschinen, neue Aufgaben für das Büro, schlaue Grundrisse und die Entscheidung, sich dem internationalen Wettbewerb zu stellen.

Peter, Du sitzt offenbar in einer angenehmen Umgebung, die ab und an hinter dem Filter aufblitzt. Ist das Ambiente, in dem wir uns jetzt 24 Stunden am Tag befinden, insgesamt wichtiger geworden?

Eindeutig. Nicht umsonst hat die Home-Interior-Branche einen kleinen Boom erfahren. Menschen haben wieder angefangen, sich einzurichten. Das heißt: Textilien gekauft, Möbel gekauft, Deko gekauft. Das hat viele gerettet, weil das Objekt-Geschäft bei den meisten Möbelherstellern eher verhalten war.

Der Boom im Privatbereich ist das eine, Büros das andere. Jahrelang hieß es, unsere Arbeitsstätten müssen gemütlicher werden, jetzt arbeiten viele im Homeoffice. Und alles ist total flexibel. Wie sieht das Büro in Zukunft aus?

Ein Ort, an dem ich gerne bin, nicht sein muss. Wir sehen das Büro als Ort, an dem ich die Sinn- und Wertelandschaft eines Unternehmens gemeinsam mit meinen Kollegen unmittelbar erfahren kann. Ein Ort, der zukünftig sicherlich mehr auf Themen des Gemeinschaftlichen einzahlt als auf Arbeitsformen, die individuell ortsunabhängig erledigt werden können.

Zuallererst eröffnen sich in der Krise Chancen, aus klischeehaften Antworten auszubrechen. Open Office, Arena, Communication Hubs und vieles mehr sind nur Werkzeuge in einem umfassenden, ganzheitlich zu denkenden New-Work-Ansatz, der ohne die gleichzeitige Betrachtung von Führungs- und Kommunikationskultur, Werkzeugen und Prozessen nur oberflächliche Kosmetik ist.

Im Wesentlichen wurden in den letzten 14 Monaten Entwicklungen nur beschleunigt, die schon vorher angelegt waren. Zum Beispiel um die jahrelang geführte Diskussion, ob man von zuhause aus arbeiten kann. Plötzlich haben alle gemerkt: Es geht – weil es gehen musste. Das ist die eigentliche Lehre aus dieser ganzen Situation: Wir leben in einer hyperkomplexen Welt, die sich permanent ändert und uns permanent auffordert, uns neu zu positionieren. Wir müssen also beweglich bleiben und uns gleichzeitig bewusst sein, dass Agilität ohne klaren Wertekompass nur Aktionismus ist.

Gilt das auch für das Homeoffice – oder gelten dort andere Regeln?

Die Herausforderung des Homeoffice ist schlicht die Größe der meisten Wohnungen. Bei explodierenden Immobilienpreisen ist das klassische Arbeitszimmer im Regel-Wohnungsbau nicht vorgesehen und nur Gutverdienern vorbehalten. Der Rest sitzt am Küchentisch, im Schlafzimmer zwischen Kleiderschrank und Wäschekorb oder gleich im Bett. Das heißt, die Fragestellung lautet: Wie flechten wir Remote-Work in reale Grundrisse ein, und wie können wir auch zuhause Typologien schaffen, die einen fließenden und doch spürbaren Übergang zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit erlebbar machen?

Es dreht sich insgesamt um geeignete Grundrisse …

Genau. Das wäre eine Chance für Unternehmen, die lange Jahre nur eine durch das Facility Management getriebene Büro-Entwicklung betrieben haben, nach dem Motto: 3000 Mitarbeiter entsprachen soundso viel Quadratmetern. Letzten Endes hat sich niemand darum gekümmert, was Menschen dort tun. Ich glaube, dass sich das fundamental ändern muss, weil Büros heute natürlich Orte sind, in denen Werte und Sinnhaftigkeit dessen, was wir dort tun, verhandelt werden. Hier findet alles statt, was ich nicht alleine machen kann: Co-Working und Co-Creation, um weitere Schlagworte zu nennen. Es geht darum, etwas zusammen zu erfahren und Zwischenräume zu erleben, also das Ungeplante zwischen den Regel-Prozessen erlebbar zu machen. Bei Bildern von neuen Büroprojekten sieht man nie Arbeitsplätze, nie. Sondern immer nur Lounges, eine Cafeteria oder Kommunikationsräume. Das spiegelt ganz eindrücklich das deutlich veränderte Bild von Arbeit wieder.

Und wie geht das?

Das ist nicht lösbar, indem ich ein lustiges Sofa in die Lobby stelle, denn eigentlich geht das bis in die Typologie des Bauens hinein. Wir sitzen auf einem riesigen Bestand von linearen Arbeits-Maschinen, die aber heute immer noch Stand der Technik sind und weiter gebaut werden. Wir bauen Typologien, die Jahrzehnte alt sind.

Also arbeitet Ihr faktisch gegen den Standard an?

Standards sind fantastisch, wenn Sie Ermöglicher sind, nicht Reglementierer. Aber manchmal geht es wirklich nur noch um Schadensbegrenzung. Wir brauchen Typologien, sowohl in der Architektur als auch im Interieur, die den Spagat schaffen zwischen Persönlichkeit und Anpassbarkeit und zwischen Agilität und Identität. Das ist das zentrale Thema. Wir müssen dafür sorgen, dass sie offen gestaltet sind, uns zukunftsfähig machen und nicht einschränken.

Das klassische deutsche Büro …

… hat zwei Workbenches links, zwei Workbenches rechts, fünf bunte Sessel und Besprecher in der Mitte und eine Funktionsdecke. Bis heute. Mit dem kannst du kaum etwas anderes machen. Das Thema ist durch, das Layout und die Nutzung weitestgehend festgeschrieben.

Wir sollten die Corona-Zeit nicht nur für uns als Branche, sondern als Gesellschaft als Weckruf zu begreifen, uns endlich aus der saturierten Bequemlichkeitswolke zu erheben, denn die Welt wartet schlichtweg nicht mehr auf uns. Krise und Wandel ist die Chance, aus festgefahrenen Mustern auszubrechen.

Und wie soll sich das Büro weiterentwickeln?

Wir glauben an Orte mit offenen Nutzungskonzepten. Statt eindimensionaler Zuschreibungen eine Einladung, Gebäude und ihre Nutzung immer wieder fortzuschreiben. Räume, die eine hybride Nutzungsvielfalt erlauben und sich mit wandelenden Ansprüchen weiterentwickeln können. Nicht umsonst sind die uns entgegengebrachten Sehnsuchtsbilder im Bereich Arbeitswelten immer wieder alte Backsteinhallen, Werkstätten oder andere umgewidmete Räume mit viel Charakter und Geschichte.

Und Gründerzeitwohnungen, die einiges an Umbauten zulassen.

Gründerzeitwohnungen haben eigentlich einen schwierigen Grundriss, aber immer eine Generosität im Layout und mit ihren hohen Decken. Nimmt man den Denkmalschutz mal außen vor, ist das immer eine Einladung, sich am Charakter des Bestands zu reiben und außergewöhnliche Lösungen für die unterschiedlichsten Nutzungstypologien zu entwerfen.

Übersetzt auf Büroneubauten hieße das …

(lacht) Ein Grundriss, der mit schlauen Kernsetzungen möglichst viel Flexibilität schafft und trotzdem Großzügigkeit und der Beweglichkeit im Grundriss hat. Räume, die eine bestimmte Höhe haben und damit offen sind für Nutzungen zwischen Wohnen, Kultur, Hospitality und Arbeitswelten. Räume, die sich verändern können. Es geht also um eine Baustruktur, die verschiedenste Inhalte über Jahrzehnte bespielt, eine Struktur, die nicht alles im vornherein schon definiert. Wir müssen diese Räume zwischen Umnutzung und Neubau wieder erobern.

Die Realität aber …

… sieht anders aus. Wir sehen viel scheinbare Flexibilität, die bei näherer Betrachtung aus Investorensicht durchaus nachvollziehbar erscheint, aber langfristig kaum nachhaltig ist. Tatsächlich haben wir hier ein enormes Potenzial, unsere angestammten Typologien zu überdenken. Vielleicht hilft uns ja ein bisschen die unbequeme Situation, wieder auf die Füße zu kommen. Der Autoindustrie musste es ja auch erst schlecht gehen, bevor sie verstanden hat, was die Stunde schlägt.

Wenn wir schon vom Geschäft sprechen …

… da gab es einen Schub fürs Büro. In unserem Büro in Shanghai haben wir uns letztes Jahr im Team verdoppelt und ich war nicht einmal dort. Das nur als Zuschauer zu erleben, macht mich schon ein bisschen wuschig. Andererseits ist es natürlich ein Abnabelungsprozess, aus dem Satellit in Shanghai jetzt eine eigenständige, sehr erfolgreiche Einheit zu machen. Das war eine tolle und befriedigende Erfahrung.

Wir waren immer sehr breit aufgestellt mit vielen Füßen auf verschiedenen Märkten. Das hat sich in dieser Krise einmal mehr bezahlt gemacht. Wir sind wirtschaftlich gut durch dieses Jahr gekommen. Unsere Konsequenz heißt, noch internationaler zu werden. Außerdem haben wir gegen den Trend letzten Herbst eine Hospitality-Unit in Berlin gegründet, weil wir an den globalen Hotelmarkt glauben.

Das heißt, …

… dass wir uns noch viel stärker der Welt stellen wollen. Wir waren immer angetrieben, Erfahrungen in verschiedenen Kulturen und Märkten zu machen, um zu sehen, wie ähnliche Probleme gänzlich unterschiedlich beantwortet werden können. Das ist eine gute Lehre, um beweglich zu bleiben und sich nicht mit den vermeintlichen Wahrheiten der eigenen Welt zufriedenzugeben. Und sich an anderen Positionen und Herangehensweisen zu reiben. Der Wettbewerb ist herausfordernd, wenn wir gegen globale angloamerikanische Kollegen antreten, gegen die wir nur ein Zwerg sind. Wir müssen uns diesen Märkten stellen. Das ist unbequem, aber daran wachsen wir.

Ippolito Fleitz Group ist ein multidisziplinäres, international tätiges Studio für Gestaltung mit Sitz in Stuttgart und Büros in Berlin, Zürich, Moskau und Shanghai.

Peter Ippolito studierte Architektur in Stuttgart und Chicago, Gunter Fleitz, Freier Architekt BDA, in Stuttgart, Zürich und Bordeaux. 2002 gründeten sie gemeinsam die Ippolito Fleitz Group, deren geschäftsführende Gesellschafter sie sind.

ifgroup.org

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