Vom Klimafresser zum Verbündeten!
Wie der Wandel von Architektur und Gesellschaft gelingen kann. Ergebnisse der KAP-Umfrage Transformation.
Die Welt ist im Wandel – und mit ihr unsere Ansprüche an zukünftige Architektur. Häuser müssen selbstverständlich nachhaltig sein und rezyklierbar, nutzungsoffener, dazu digital kompatibel und natürlich erschwinglich. Noch können wir den Umbruch gestalten. Aber das Zeitfenster schließt sich angesichts von verantwortungslosem Handeln, Rohstoffmangel und steigender Weltbevölkerung.
Die Bauwirtschaft sitzt an einem langen Hebel, der geschickt eingesetzt werden kann. Sie kann aber nicht alle Probleme zugleich lösen. Nichts mehr bauen ist keine Alternative – und angesichts steigender Nachfrage etwa in Asien und Afrika eher das Wunschdenken einer saturierten mitteleuropäischen Gesellschaft. Es klingt so einfach: Bauen muss sich vom Klimafresser zum Verbündeten einer humanen Zukunft wandeln. Und das schnell.
2010 verschlang der Bausektor rund 32 Prozent des weltweiten Endenergieverbrauchs und sorgte für 19 Prozent aller Treibhausgasemissionen (Fünfter Sachstandsbericht des Weltklimarats – Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC / www.ipcc.ch) – Zahlen, die sich bei steigender Nachfrage nach Wohnraum und Energie bis 2050 sogar verdreifachen könnten.
Deutschland taugt nicht als Vorbild. Der Endenergieverbrauch (EEV) sei seit der Wiedervereinigung kaum gesunken, stellt das Umweltbundesamt im März 2021 (www.umweltbundesamt.de) fest. Energie werde zwar effizienter genutzt und teilweise eingespart, doch Wirtschaftswachstum und Konsumsteigerungen verhinderten einen deutlicheren Verbrauchsrückgang.
Was ist zu tun? Ein Dutzend Architekt*innen und Stadtplaner*innen haben ihre Gedanken mit uns geteilt. Ihre wichtigsten Thesen im Überblick.
1. Ganzheitlich Planen heißt Menschen einbinden
Partizipation und Gemeinnützigkeit bilden die Grundlage: Engagement für die Gemeinschaft ebenso wie ein Bewusstsein für das, was verbindet (Baukultur). Nachhaltigkeit muss früher in den Blick genommen werden, um so einen integrativen, kohärenteren Planungsprozess zu fördern (Roger Boltshauser). Kein Wunder, dass traditionelle Bauten aus verschiedensten Weltgegenden herangezogen werden – von afrikanischen Lehmbauten bis hin zu alpiner Architektur. »Die europäische Stadt ist das beste Abbild einer gelebten Nachhaltigkeit«, sagt etwa Christian Heuchel: »Alle Projekte, die dieses Modell unterstützen, setzen ein Zeichen.« Daher gelte es Beispiele zu setzen, Fachdisziplinen zu verbinden und mutige Bauherren zu fördern, sagt Karin Loosen.
Ein energetisch optimiertes Haus ohne Anbindung an sein Umfeld bewirkt wenig. Das eigentliche Spiel beginnt, wenn Häuser nicht mehr monofunktional optimiert werden, sondern flexible Gehäuse für vielfältige Nutzungen geworden sind. Sie stärken so das Netzwerk der Straße, der Nachbarschaft, des Quartiers und der Stadt. Das fordert etwa Gerhard Wittfeld: »Projekte, die ästhetisch, sozial, funktional sind, die den öffentlichen Raum mitdenken, bestehende Gebäude und Materialien transformieren /wiederverwenden und ‚gebaute Gemeinschaft‘ schaffen, ob im Wohnungs-, Büro- oder Kulturbau, auf städtischer Ebene oder im öffentlichen Raum.«
2. Verdichtung bedeutet Weiterbauen: Sanierung und Ergänzung stehen vor Abriss und Neubau
Den »anhaltenden Flächenfraß durch Neubaugebiete zugunsten von Nachverdichtung stoppen«, fordert Justus Pysall. »Überholte Monostrukturen hin zu einer Überlagerung von Funktionen wie Gewerbe, Wohnen und nicht störende Fabrikation« verändern, avisiert Jürgen Engel, der auffordert, die Baunutzungsverordnung (BNVO) weiterzuentwickeln. Und Christoph Ingenhoven verweist auf die Kollegen Lacaton Vassal mit ihrem sehr zeitgemäßen Credo »Never demolish, never remove or replace, always add, transform and reuse.« Eindrücklich bringt das auch Verena Brehm auf den Punkt: »Umbauen, Multicodieren, Freiraum und Bebauung zusammen entwickeln.«
Wissen ist Macht. So verlangt Sven Schimpf die transparente »Vermittlung der Lebenszykluskosten von Gebäuden« – ein Gedanke, der sich bei vielen Kolleg*innen findet (besonsers: Roger Boltshauser). Wachstum sei nie nur ein »Mehr« gewesen, regt Cornelia Zuschke an, sondern in der kontinuierlichen Stadt ein »Anders« – Transformation sei Motor der Architektur seit je.
Das Konzept der »autogerechten Stadt« hat ausgedient. Architekten wie Christoph Ingenhoven propagieren stattdessen eine »am Menschen und an historischen Bezügen orientierten Planung.« Rudi Scheuermann fordert einen »effizienten öffentlichen Nahverkehr mit attraktiver Taktung.« Stattdessen steht die Stadt der kurzen Wege (15-Minuten-Stadt) an, die das Soziale und die Quartiere in den Mittelpunkt stellt (Peter Dehne).
»Ging es in den 1960er Jahren um die effiziente Gestaltung dieser Ströme, wird es künftig darum gehen, diese so zu reduzieren, dass die Menschen dies als Vorteil wahrnehmen«, sagt Tobias Just. Der Düsseldorfer Architekt Werner Sübai setzt auf: »Vorfertigung und Modularisierung der Baukonstruktion und Gebäudetechnik sowie durch 3D-Planung und smart verlinkte Design-, Produktions- und Unterhaltungsprozesse.« Sein Ziel ist die »Kreislaufwirtschaft im Bauen, die eine Berücksichtigung der C2C-Vorgaben und die Katalogisierung von Materialien selbstverständlich macht.«
3. Transformation gelingt nicht ohne gesetzliche Standards
»Wir brauchen klare staatliche Regelungen zu verbindlichen Recyclingquoten und zur Reduzierung der grauen Emissionen«, wünscht Roland Bechmann. CO2-Besteuerung für Gebäude ist nur eine Forderung. Konsequente Kreislaufwirtschaft und Materialpässe für Gebäude eine andere. Elisabeth Merk macht deutlich, dass es um das große Ganze geht, bis hin zur »sozialen Bodenreform als Schlüssel zu bezahlbarem Wohnen«:
»Letztlich brauchen wir für eine Transformation, eine gesetzliche Verankerung, die festlegt, dass zum Schutz der Natur und des Klimas der gesamte Lebenszeitzyklus von Gebäuden – von Beginn der Planung, während der Nutzung und des Rückbaus – zu betrachten sind.«
So sehr die Architekt*innen auch Zertifizierungssysteme und Nachhaltigkeits-Standards loben, so deutlich schlägt dem System auch Kritik entgegen: Im Rausch der verschiedenen Zertifizierungen und des allgemeinen Greenwashing ginge »der Blick auf einfache klare Lösungen zunehmend verloren«, wendet Tillmann Heuter ein. Bauen heißt immer auch Baukultur. Nikolaus Goetze prangert den »Dämmwahn« und inflationären Einsatz von Photovoltaik-Anlagen an und gibt dem Gedanken der Nachhaltigkeit eine Wendung ins Ästhetische.
Die Nachhaltigkeit von Gebäuden ist nicht in erster Linie eine Frage innovativer Materialien oder Techniken. Ob ein Gebäude wirklich nachhaltig, also in erster Linie von Dauer ist, entscheidet sich bereits in der Planung, in der räumlich-ästhetischen Entwicklung von Form und Funktion. Ästhetik und Sinnhaftigkeit sind das höchste Gut nachhaltiger Architektur.
Mit ähnlichem Schwung formuliert Matteo Thun: »Wir sollten uns zunehmend des menschlichen Wertes von Architektur bewusst werden. Eine Matrix aus Funktion und Life-Cycle-Management, aus Sensorialität und Kulturkompetenz, aus dem Verhältnis von Qualität und Preis und technologischer und ästhetischer Beständigkeit – die Werte von ‚Consciousness’ können dazu beitragen, die Schönheit der Zukunft zu gestalten.« Anders formuliert: Identifikation der Bewohner*innen sorge für lange Nutzungsdauer – und damit für Nachhaltigkeit.
4. Neues Denken braucht das Land
Wie soll der Wandel gelingen? Alles beginnt im Kopf. Eine »gelungene Transformation zum nachhaltigen Bauen fängt beim Bewusstsein an«, sagt etwa Rudi Scheuermann. Ein solcher Wandel geschieht durch Übereinkunft, Regeln und notfalls gesellschaftlichen Druck: »Gesellschaftlich unmöglich machen, das falsche Haus zu bauen«, fordert Christoph Ingenhoven. Eine fundamentale Fehlausrichtung der Immobilienwirtschaft samt Fördermöglichkeiten diagnostiziert Ko-Dorf-Gründer Frederik Fischer: Es fehle an »den richtigen Anreizen im Markt. Rendite bringt, was weder im Interesse der Gesellschaft noch der Umwelt ist.« Noch deutlicher wird Oliver Thill: »Kapitalismus und Nachhaltigkeit schließen sich im Kern leider aus.«
Neues Denken braucht das Land. Auch Amandus Samsøe Sattler macht klar: »Nur noch Notwendiges bauen und keine begehbaren Anlageprojekte mehr.« Noch drastischer formuliert: »Das Bauen muss teurer werden. Der Traum vom Eigenheim muss platzen«, fordert Christian Heuchel. Im Grunde ist es eine Frage der Haltung, wenn Elke Delugan-Meissl die Frage unseres Verhältnisses zur Natur aufwirft. Natura mensura est.
Die Wende könne gelingen durch eine »Mischung aus Ambitioniertheit, Zuversicht und Beharrlichkeit«, sagt Eva Herr und empfiehlt: »Einfach loslegen: die ad-hoc Maßnahmen in der Innenstadt zeigen, dass man, wenn man den Anspruch auf Perfektion hintenanstellt, schnell viel erreichen kann.« Achim Nagel fordert nichts weniger als einen Neustart: »Im Grunde genommen wissen wir doch, dass diese Transformation durch klugen Umgang mit dem Bestand und dessen Weiterbau, Verdichtung und die Verwendung nachwachsender Baustoffe gelingt. Unverständlich warum dafür in Deutschland zwar guter Wille vorhanden ist, aber nicht die Kapazitäten und das Knowhow. Das Klima, die Ressourcen, die Neue Ökonomie und die Demographie sind ja nicht mehr anders anzugehen als mit einem Neuen Denken!«
5. Verantwortung ist unteilbar
Wenn auch viel von Wandel die Rede war, von Suffizienz, Transparenz, Offenheit und Partizipation, spielten Big Data, BIM oder digitale Transformation eine erstaunlich kleine Rolle. »Daten sammeln«, empfiehlt zwar Tobias Just: »Wie sollen wir etwas besser machen, wenn wir nicht wissen, wie es aktuell ist? Und auch Patrick Lüth mahnt, die »Möglichkeiten der Digitalisierung stärker in den Planungs- und Bauprozessen zu nutzen.« Aber das sind gerade zwei Stimmen im vielfältigen Chor.
Dabei fehlte es nicht an konkreten Vorschlägen zur Veränderung: Plus-Energie-Häuser unter Berücksichtigung von MIPS. Roger Boltshauser favorisiert Hybridkonstruktionen, »in welchen jedes Material seine Stärken ausspielen kann und in welche keine unnötigen Ressourcen oder Energie investiert werden.«
Worum also geht es wirklich, jenseits von bezahlbarem Wohnraum durch kostengünstiges Bauen (Karin Loosen)? Nicht um Typologien, Materialien und Konstruktionen, sondern um Grundlegendes: Die Haltung derjenigen, die unsere Umwelt schon immer maßgeblich mitgeprägt haben. Gestalter*innen fordern einen neuen Zusammenhalt zwischen Politik, Immobilienwirtschaft und Stadtplaner*innen. Ein gemeinsames Miteinander statt einem satten »weiter so«. Deutlich machte das Roland Bechmann stellvertretend für viele Kolleg*innen:
»Architekten und Ingenieure müssen sich ihre Verantwortung für eine nachhaltig geplante Umwelt immer wieder vor Augen halten. Wenn nicht wir als Planer den Bauherren Wege zu nachhaltigen und wirtschaftlich vertretbaren Gebäuden aufzeigen – wer dann?«
Dank an
Roland Bechmann, Roger Boltshauser, Verena Brehm, Peter Dehne, Jürgen Engel, Frederik Fischer, Nikolaus Goetze, Eva Herr, Christian Heuchel, Tillmann Heuter, Christoph Ingenhoven, Tobias Just, Karin Loosen, Elisabeth Merk, Elke Delugan-Meissl, Achim Nagel, Justus Pysall, Amandus Samsøe Sattler, Rudi Scheuermann, Sven Schimpf, Werner Sübai, Oliver Thill, Matteo Thun, Gerhard Wittfeld und Cornelia Zuschke.
Beiträge werden wir im nächsten KAP-MAGAZIN »Transformation« veröffentlichen.
Beispiele A-Z
Alsenhof in Lägerdorf, Altglienicker Höfe in Berlin-Altglienicke, Seestadt Aspern Wien, Brainport Smart District Helmond, Holland, Christus-Pavillon der Expo Hannover, Cykelslangen Kopenhagener, Cube in Berlin, Deutzer Hafen in Köln, Dreispitzareal zwischen Birstal und Basel, Drillinge Bad Aibling, Ecovillage in Hannover-Kronsberg, High Line in New York, Hochhaus H1 auf dem Areal Zwhatt, Hufeisensiedlung von Bruno Taut, Flughafen Tegel, Kalkbreite in Zürich, Kamikatsu (Japan), Kö-Bogen II in Düsseldorf, MIPS-Haus des Wuppertal-Instituts, NEST Dübendorf, Olympiapark München, Pepitahöfe in Berlin-Spandau, Brauereiareal Pfefferberg in Berlin, Prinz Eugen Siedlung München, Quartier de Grand Parc Bordeaux, Public Condenser in Paris, RAG-Kreislaufhaus, Siemens Campus in Erlagen, Recyclinghaus Hannover, Schwimmhalle Schwerin, Stadthaus Venlo, Stuttgart 21, The Cradle, Düsseldorf, Quellwerk Aachen, Unique3 Saarbrücken, Holzwohnhaus Walden 48, Werk 12 München, We House Hamburg und Ziegelei-Museum in Cham.
Zusätzliche Quellen
Lesen Sie hier den Artikel »Nicht begrenzen – entgrenzen!«
Baukunst in Zeiten der Transformation. Ein Manifest von Klaus Burmeister.