ÜBER DIE KRAFT DER VERÄNDERUNG

Zukunftsforscher Klaus Burmeister fordert mehr Offenheit und Streitkultur – auch und gerade von Gestalter*Innen.

Sie werden meinen Beitrag vom März 2020 sicher nicht mehr im Kopf haben. Ich übrigens auch nicht. Gerade habe ich ihn noch einmal gelesen. Er war hinreichend allgemein gehalten und weitblickend genug, so dass ich mich auch heute noch mit ihm leben kann.

Heute heißt: Wir schreiben das Jahr 2021, es ist Januar und die neuen 20er Jahre liegen vor uns. Hinter uns liegen zehn Monate vielfältiger Krisenerfahrungen, und wir sind lange noch nicht durch. Die Pandemie hat uns und den öffentlichen Diskurs auf der Bundes- und der Landesebene fest im Griff. Das Corona-Kabinett tagt jeden Montag und ist schon ins Organigramm des Kanzleramtes integriert. Die wiederkehrenden Corona-Gipfeltreffen mit den Länderchefs sind die Höhepunkte der an- und abschwellenden Diskurse über den rechten Kurs im Umgang mit Covid-19. Sie sind aber auch die Bühne von Inszenierungen und Positionierung deutscher Politiker und Parteien. Was auch allzu menschlich ist.

GRUNDRECHTE SCHÜTZEN

Ein Streit über ein Thema ohne empirische Vorerfahrungen darf auch als ein Ringen um gute Lösungen verstanden werden. Gewichtiger sind schon die berechtigten Hinweise auf eine Verschiebung der Achse der Gewaltenteilung hin zur Exekutive. Die Rechte des Parlaments treten in Krisenzeiten häufig in den Schatten, was dauerhaft zu Schäden führt. Geht es doch gerade in diesen Zeiten um eine Bewahrung demokratisch verbriefter Rechte. Bewahrung meint schützen, aufrechterhalten und auch verteidigen. Aber eine resiliente Demokratie muss auch die Dimension einer lernenden Reflektion und das Wahrnehmen von Grundrechten gleichermaßen beinhalten. Ohne gesetzliche Regulierung und parlamentarische Debatten darf es nicht dazu kommen, dass Freiheitsrechte per Verordnung dauerhaft eingeschränkt werden. Udo de Fabio, konservativer Ex-Verfassungsrichter, hält die Impfregeln schlicht für verfassungswidrig. Ob die aktuellen Lockdown-Verschärfungen vom Corona-Gipfel am 7. Januar juristisch wasserfest sind, bleibt abzuwarten. Die vereinbarte Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Bürger*Innen auf einen Radius um 15 Kilometer, das bleibt festzuhalten, stellt einen massiven Eingriff in die Bürgerrechte dar.

»Wir erleben es hautnah und wie im Zeitraffer, dass scheinbar feste soziale, politische und wissenschaftliche Übereinkünfte und Wissensbestände sich aufzulösen drohen.«

WIDERSPRÜCHE AUSHALTEN

Sie merken schon, je tiefer man gedanklich in Pandemie-Fragen eindringt, je unübersichtlicher wird es. Sie werden auch die vielen, berufenen und weniger berufenen Stimmen hören, die uns tagtäglich überbordend erreichen. Wir müssen deshalb nicht zum Arzt. Wir müssen die Kakophonie nicht nur aushalten, wir müssen sie zu lesen wissen. Wir brauchen einen klaren Blick, einen guten Schuss des oft etwas diskreditierten gesunden Menschverstandes. Verstand kommt unter anderem von „davor stehen“, wodurch man beispielsweise eine Sache genau wahrnehmen kann – und die (Selbst-)Vergewisserung im Gespräch mit anderen. Sie merken schon, kein kompliziertes, ein komplexes Vorgehen. Leider wissen wir, dass Menschen, zu einfachen Lösungen neigen. Damit sind wir beim nächsten Aspekt, ein schwerwiegender.

Wir erleben es hautnah und wie im Zeitraffer, dass scheinbar feste soziale, politische und wissenschaftliche Übereinkünfte und Wissensbestände sich aufzulösen drohen. Fakten sind kein Garant mehr für qualifizierte Gespräche und Entscheidungen. Der Konsens darüber, was wahr, richtig und falsch ist, droht von einer Pippi-Langstrumpf-Mentalität in Wissensfragen übertüncht zu werden. Das Querdenken gerät durch Verschwörungstheoretiker in Verruf, alternative Fakten sprudeln in den sozialen Medien ans Licht der Gemeinde (Community), krude Verschwörungstheorien erhalten Zulauf, von Menschen, die aussehen, wie Sie und ich, und sie haben Eingang in die Weltpolitik erhalten. Die „Süddeutsche Zeitung“ sprach nach der Palast-Revolte am und im Capitol in ihrer Ausgabe vom 8. Januar, treffend vom einem „‘Woodstock‘ der Wütenden“ (https://www.sueddeutsche.de/digital/trump-biden-kongress-us-wahl-qanon-proud-boys-1.5168960). Wer die Bilder gesehen hat, weiß, wovon ich spreche, eine wilde Mischung aus Schamanen, Proud Boys und „Flaneuren“, die innerhalb der Besucherpfade im Capitol ruhig ihre Selfies schossen. Ich will den von Trump provozierten „Putschversuch“ nicht herunterspielen. Ganz sicher nicht. Vielmehr hat er deutlich die Verletzlichkeit der westlichen Demokratie vor der gesamten Weltöffentlichkeit ausgebreitet. Es wurde die Herzkammer der Demokratie angegriffen.

»Großmächte, oder besser noch Zivilisationen, folgen seit Jahrtausenden ähnlichen Mustern des Zusammenbruchs. Egal, ob es sich um das Kaiserreich in China, das Imperium Romanum oder das Mogulreich in Indien handelt.«

FREIHEIT SCHÄTZEN

Die Stürmung des Kapitols ist ein untrügliches Zeichen für einen sich manifestierende „Kollaps“ (Jared M. Diamond) von Gesellschaften oder wie es Levitsky und Daniel Ziblatt es 2018 formulieren: „Wie Demokratien sterben“. Große Worte am Ende. Sehen sie es mir bitte nach. Wir sollten und müssen auch diese Dimension mitbedenken. Großmächte, oder besser noch Zivilisationen, folgen seit Jahrtausenden ähnlichen Mustern des Zusammenbruchs. Egal, ob es sich um das Kaiserreich in China, das Imperium Romanum oder das Mogulreich in Indien handelt. Die Ursachen für den Zusammenbruch von Zivilisationen, so der Konsens von Ethnologen, Systemtheoretiker, Historiker und Soziologen, lassen sich so zusammenfassen: Es sind Umweltveränderungen, die Erschöpfung von Ressourcen, eine zunehmende Ungleichheit, ein mangelnder sozialer Zusammenhalt, auch übermäßig komplexe Gesellschaftssysteme und aber auch ein „moralisches Versagen der obersten Führung“.

Damit möchte ich Sie am Ende dann doch nicht allein lassen. Was daraus folgt? Wir erleben mit der Pandemie eine multiple, mehrdimensionale Krise. Quantencomputer, Künstliche Intelligenz und den Klimawandel lasse ich mal geflissentlich außen vor. Covid-19 wird nicht einfach verschwinden. Neue Pandemien dürfen erwartet werden. Einige sprechen schon von einem pandemischen Zeitalter. Unsere Art des Lebens, unser Lebensstil wird sich verändern (müssen). Demokratie ist kein Geschenk. Sie ist eine Grundvoraussetzung für Freiheit und Kreativität. Nur wenn es uns gelingt, das, was uns als Gattung auszeichnet, dauerhaft freizusetzen, nämlich unsere Fähigkeit zur Entfaltung von Kreativität und Innovation, werden wir diese Transformationsphase bewältigen. Was am Ende dieser Periode stehen mag, ich weiß es nicht. Ich bin aber sicher, verzeihen Sie bitte den flapsigen Ausdruck, es wird kein Zuckerschlecken. Ohne eine offene und breite Kommunikation auf Basis eines gesellschaftlichen Grundkonsenses, ohne persönliche Haltung und Interventionen wird es nicht gehen.

STÄDTE NEU DENKEN

Dazu braucht es Architekt*Innen, die sich nicht (mehr) nach chinesischen Planungsverhältnissen sehnen, Bürgermeister*Innen, Stadtplaner*Innen und Projektentwickler*Innen, die mutig und zukunftsfähig den Bürgern ihre Stadt zurückgeben und damit den transformativen Wandel realisieren, hin zu lebendig kommunikativen Innenstädten. Und wir brauchen Menschen, die sich nicht in die pandemischen Verhältnisse einrichten, die wach bleiben, selbstkritisch die Verantwortung übernehmen, für ihre Liebsten, sich sowie auch die anderen, die empathisch und solidarisch sind.