CORONA STELLT DIE SYSTEMFRAGE:
VERÄNDERUNG ALS GESELLSCHAFTLICHE CHANCE.
GEDANKEN EINES ZUKUNFTSMENSCHEN IN ZEITEN DER PANDEMIE.
KLAUS BURMEISTER, LEITER DES BERLINER FORESIGHTLABS
Es fällt schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren. Corona ist das beherrschende Thema in den Medien und in unseren Köpfen. Keine Chance, dem zu entgehen. Am 26. März verkündete Jens Spahn auf der Bundespressekonferenz: »Noch ist das die Ruhe vor dem Sturm«. Und Gerd Landsberg, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes mahnt, dass die Politik »selbstverständlich eine Exit-Strategie« entwickeln müsse, weil das ganze Land nicht auf Dauer lahmgelegt werden könne.
Die Epidemie, begonnen hat sie »offiziell« am 1. März, nachdem erstmals 100 Fälle der Corona-Infektion in Deutschland bestätigt worden waren. Und sie wuchs in atemberaubender Geschwindigkeit. Jetzt, mit dem »Shutdown«, ist fast das gesamte gesellschaftliche Leben in ein »soziales Koma« gefallen. Der Begriff hat sich schon geschmeidig ins Repertoire unseres Small Talks geschlichen. Er hat das Zeug zum Wort des Jahres gekürt zu werden. Wir sind inzwischen zu Ko-Experten der Virologen und Krisenexperten geworden. Tagtäglich vergleichen wir die Zahlen des Robert Koch-Institutes mit denen der Johns-Hopkins-Universität. Wir diskutieren leichter Hand exponentielle Kurvenverläufe und Pandemie-Szenarien und meinen zu wissen, dass nach dem »Hammer« der »Dance« zur Unterdrückung der Kurve (»flatten the Curve«) die gebotene Strategie sein muss: Drei Millionen-Leser von »The Hammer und the Dance« können nicht irren.
In unseren digitalen Echokammern erhalten wir inflationär permanent neue Informationen, während unsere Wissensproduktion damit auch nicht annähernd Schritt halten kann. Schlimmer noch, wir haben es in der Pandemie mit unbekanntem Nichtwissen; »unknown unknowns« zu tun. Darauf sind wir nicht vorbereitet und viele wissen es nicht. Merkwürdige Zeiten.
Von der Krise zum Paradigmenwechsel
Die Corona-Pandemie ruft Erinnerungen an Nine Eleven (2001), die Sars Epidemie von 2003, die Finanzkrise von 2008 oder an Fukushima (2011) wach. Und doch ist sie anders. Die Corona-Pandemie offenbart die Verletzlichkeit unserer Ordnung wie im Zeitraffer. Und sie kommt nicht allein daher. Sie überdeckt und verschärft bestehende soziale, wirtschaftliche und technologische Umwälzungen. Mit ihren vernetzten Wirkungen auf die Finanzmärkte, den Welthandel und unsere Wachstumsprognosen besitzt sie ein systemsprengendes Potential. Wir befinden uns in einer multiplen Krisensituation, denen einige, wie der Globalhistoriker Yuval Noah Harari, auch den Charakter eines Paradigmenwechsel zuschreiben.
Kursorisch sei in diesem Kontext daran erinnert, dass wir in Deutschland noch kurz vor Covid-19 mit dem Ausstieg aus der Braunkohle bis 2038 einen tiefgreifenden Strukturwandel eingeleitet haben. Und wir heftig über die Wirksamkeit des Klimapakets und die mangelhaft ausgeführte Energiewende diskutiert haben. Vor wenigen Wochen erregte die Ankündigung von Elon Musk die Gemüter, im brandenburgischen Schönheide eine Gigafactory von Tesla zu errichten. Ein beispielhafter Akt, der den bevorstehenden disruptiven Umbruch der deutschen, aber auch der internationalen, Automobilindustrie in Richtung regenerativer Antriebe sowie intermodaler und autonomer Mobilitätsplattformen symbolisiert. Der Ruf nach Sprunginnovation durch Künstliche Intelligenz oder der Nutzung von Quantencomputern verhallt dagegen im dissonanten Konzert unserer – durch den lange währenden wirtschaftlichen Erfolg – gelähmten Industrienation.
Das Alte wankt
Und jetzt auch noch Corona. Während das Alte wankt und das Neue noch im Werden begriffen ist, stellt uns die Pandemie unerwartet vor die Systemfrage. Wenn ich ehrlich bin – und ich bin es – habe ich auch nicht die Antwort auf die Corona Pandemie parat. Sicher bin ich mir nur, dass wir uns ein »weiter so« als Gesellschaft nicht leisten können. Die doch erstaunliche Anfälligkeit des globalen wirtschaftlichen und sozialen Gesamtsystems zeigt überdeutlich die Notwendigkeit den Begriff der Resilienz wieder auf die politische Agenda zu setzen. In ihm steckt neben der wichtigen inhaltlichen Dimension der Robustheit von Systemen, auch ein bislang unterschätzter Aspekt. Es geht um die Entfaltung kreativer Lernfähigkeit als notwendige Überlebensbedingung in turbulenten Zeiten.
Auch wenn es platt und abgedroschen klingen mag, die Krise birgt die Chance, uns neu zu erfinden. So war es immer in der Geschichte. Notwendig wird es sein, im derzeitigen Ausnahmezustand eine kollektive Souveränität zu bewahren. Hierzu gehört fundamental, dass wir unsere zivilisatorischen Errungenschaften nicht einem fatalen Kampf zwischen Humanität und Wirtschaftswachstum preisgeben. Ich höre bereits die Stimmen, die leichtfertig Freiheitsrechte aussetzen und die Hochrisikogruppe der älteren Menschen letztlich »opfern« wollen.
Handeln und Nachdenken – wir brauchen beides
Während ich mir noch den Luxus des Nachdenkens leiste, müssen die politisch Verantwortlichen handeln. Wir brauchen beides. Mit dem Netz haben wir, im Guten und wie im Schlechten, einen Diskursraum, der uns in die Lage versetzt, diskursiv zu handeln. Als Experte für Zukunftsfragen und als Bürger denke ich, wir müssen uns ab jetzt vorausschauend auf einen transformativen Zukunftsdiskurs einlassen. Jetzt geht es um kurz-, mittel und auch langfristige Weichenstellungen für eine zukunftsresiliente Gesellschaft. Das ist beileibe keine Zukunftsmusik. Denkbar und machbar wäre beispielsweise die Einrichtung einer erweiterten Enquete Kommission durch den Deutschen Bundestag. Die Enquete Kommission dürfte aber nicht nur Experten einbeziehen, sondern öffentlich und netzgestützte Partizipationsformen wählen, um uns Bürger als die Experten des Alltags aktiv in den Prozess einzubeziehen. Wer jetzt denkt, das dauert doch alles viel zu lange, dem sei gesagt, alle Entscheidungen, die nicht von der Bevölkerung mitgetragen werden, müssen mit staatlicher »Gewalt« durchgesetzt werden.
Ohne vermessen sein zu wollen, wird es in den so oder so anstehenden Debatten um viel gehen:
• ein wertebasiertes Wirtschaften im Einklang mit der Natur,
• stärker dezentral ausgerichtete Lieferketten für einen fairen und nachhaltigen Warenaustausch,
• um die Schaffung lokaler, urbaner, digital vernetzter und auch KI-gesteuerter Produktion und Distribution und sicher auch
• um die Ermöglichung eines freien und Daten- und Wissensaustausches souveräner Bürger, Unternehmen und Staaten als Grundlage für Innovation und Kreativität in einer solidarischen Weltgesellschaft.