Ohne Ästhetik keine Akzeptanz

Jasna Moritz, Mitglied der Geschäftsleitung kadawittfeldarchitektur, über Flexibilität und Kreislaufwirtschaft beim Hamburger Wohnhochhaus Moringa, das nach Cradle-to-Cradle-Prinzipien konzipiert und errichtet wird.

Was unterscheidet Cradle-to-Cradle (C2C) eigentlich von nachhaltiger Architektur? Ist das wie vegan und vegetarisch?

(Lacht) Vom Grundsatz her gibt es große Überschneidungen. Beide fußen auf den drei Säulen Ökonomie, Ökologie und Sozialem. Was uns an Cradle-to-Cradle so gut gefallen hat als Denkmodell und Innovationskonzept: Es setzt konsequent auf Kreislaufwirtschaft. Es ist ja vom Ursprung her eine Produktzertifizierung …

… von Wolfgang Braungart entwickelt,

… der als Chemiker forderte, dass Produkte so entwickelt werden, dass sie immer im Kreislauf geführt werden können. Und plötzlich ist der Mensch ein Nützling auf Erden. Das Positive des Denkmodells hat uns sehr gut gefallen. Wir wollen ja auch Optimismus verbreiten.

Also ist der Unterschied nur ein terminologischer? Cradle-to-Cradle setzt doch auch darauf, dass Giftstoffe aus Kreisläufen entfernt werden, so dass wir wie die Natur denken und produzieren.

Genau. So gesehen, ist C2C ein konkretes Konzept, auf das wir uns hier fokussiert haben. Nachhaltige Architektur ist ein sehr weitgefasster Begriff.

Sie nehmen sich einiges vor: Über 50 Prozent von mindestens drei Bauteilgruppen galt es als zerstörungsfrei demontierbare Konstruktion umzusetzen. Meinen Sie damit Stahlbetonskelett, Ausbauwände und Fassadenmodule?

Es ist freigestellt, welche Bauteile wir in den Fokus nehmen, aber eben mindestens 50 Prozent. Mit einem Dreh: Wenn man die idealen nachhaltigen Konstruktionen oder Produkte wählt, ist es aktuell kostenmäßig nicht zu schaffen. Alternativen im Dämmbereich sind aber oft dreimal so teuer. Da findet ein Abwägungsprozess statt. Wir fragen, was für uns die größte Wirksamkeit hat mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Wir haben unser Referenzprojekt auf Zollverein, dort musste der GU nachweisen, dass er die Ziele unter anderem bei der Innenraumluftqualität eingehalten hat. Der Teppich war zum Beispiel feinstaubbindend und wird vom Hersteller zurückgenommen, das ist ein positives Beispiel, wie ein Produkt im Kreislauf geführt wird.

Und wie steht es mit Recyclingbeton, den Sie ja auch einsetzen?

Dieser ist augenblicklich noch eine Krücke und wird teilweise kritisch gesehen, weil die Zuschlagstoffe nicht immer astrein sind. Man kann an vielen Stellen einen kritischen Blick darauf werfen, dennoch ersetzt Recyclingbeton den Kiesanteil und schont damit Ressourcen. Da ist vieles noch in der Entwicklung.

Welche Baustoffe?

Sie hätten in Holz bauen können …

… schon, aber hier stießen wir an geometrische Grenzen.

Wie das?

Holz trägt in eine Richtung und kann umlaufende Balkone nicht tragen. Wir hatten zudem keinen zentrischen Kern. Bei unserem Hochhaus ist er nach Norden ausgerichtet, um die besten Grundrisse zu erzielen, in Hinblick auf Tageslicht. Das wäre in Holz nicht so einfach umsetzbar, da hat uns der Tragwerksplaner schnell den Zahn gezogen. Dafür setzen wir statt der klassischen Schottenbauweise auf einen Skelettbau. Das ist im Wohnungsbau ungewöhnlich, weil man hier und da eine Stütze hat, aber es führt dazu, dass wir im Ausbau deutlich flexibler bleiben. Was ist etwa, wenn Wohnen in den Regelgeschossen nicht mehr angesagt ist? Dann ziehen Büros ein oder es wird zu gemeinschaftlichen Wohnformen umfunktioniert. Für solche Szenarien hilft eine flexible Tragwerksstruktur.

Welche Partner?

Also ist Flexibilität ein Schlüssel bei Cradle-to-Cradle. Sie als Regisseure des Baus mussten sicher auch auf Partner Rücksicht nehmen. Wieviel Mehraufwand hat das für Sie bedeutet? Mussten Sie anders planen, denken, ausschreiben …?

Mit dem Bauherrn, der Moringa GmbH, haben wir sehr genau darauf geschaut, welche Partner wir ins Boot holen, speziell bei Moringa gab es ein wahres Bewerbungsverfahren. Das Gute dabei: Mit jedem Projekt wird man besser, kann besser Regie führen, um den erweiterten Blickwinkel auf bauökologische Fragestellungen genauer durchzuziehen. Dazu gehören Fragen nach der sortenreinen Trennung, und da ist es gut, wenn sich die Partner das Mindset verinnerlichen. EPEA, Part of Drees & Sommer mit Expertise für Circular Engineering, unterstützt uns dabei und entwickelte eine C2C-Matrix, in die jeder Ideen einbringen kann, etwa interessante alternative Konzepte und Produkte. Wichtig ist, diese Ideen konsequent weiterzuverfolgen und fachübergreifend zu diskutieren.

Da der Preis eine große Stellschraube darstellt, wo liegen die anderen, wenn Sie Bauherren und Partner mitnehmen wollen?

Man muss auf die Vorteile hinweisen. Wir sind von Grünfassaden schon lange überzeugt, und haben einen Nachhaltigkeitsexperten im Haus, der sich mit der Mikroklimaanalyse auskennt und fundierte Ergebnisse anschaulich vermittelt. Hier muss man sich als Architekt*in sprachfähig machen. Wenn Bauherren einen Mehrwert erkennen, nehmen sie auch Mehrkosten in Kauf. Dafür braucht es aber fundierte Argumente. Moringa ist gemeinsam mit dem Bauherrn und EPEA Cradle-to-Cradle-inspiriert entwickelt worden und prägt den Projektgeist somit intrinsisch. Das sind sehr gute Voraussetzungen.

Welche Nachweise?

Wie dokumentieren Sie eigentlich die Fülle der Baustoffe? Ein Aktenordner wird es ja wohl nicht mehr sein …

… alles wird digital erfasst, durch eigene Fachplaner. Bei Moringa greifen die Experten auf unser IFC-Modell zurück, um die riesigen Datenmengen zu strukturieren und zu dokumentieren. Das beginnt mit einem Bauteilkatalog, der sukzessive mit mehr Daten gefüttert wird, mit Kriterien zur Ökobilanz, Trennbarkeit, Recyclingfähigkeit und Schadstofffreiheit – all das wird jedem Produkt zugewiesen. Der „Material Passport“ begleitet uns die ganze Zeit, das finale Dokument – „as built“ – aber wird es erst am Schluss geben.

Warum haben Sie sich entschieden, diese Daten-Kompetenz nicht im eigenen Haus aufzubauen?

Weil das sehr unter anderem viel mit IT zu tun hat. Wichtig für uns Architekten ist, dass wir schon in der frühesten Phase – wenn wir Systementscheidungen treffen, welches Tragwerk, welche Fassade – fit sind in bauökologischen Fragestellungen.

Es geht um die „richtigen“ Baustoffe.

Genau. Bei den Klassikern unter den Baumaterialien wurde schon immer vieles richtig gemacht, die waren von jeher recyclingfähig. Zeitweilig aber gab es immer abstrusere Produkte, das hat sich auch daraus entwickelt, dass wir Architekten vieles verstecken wollten. Und wenn bestimmte Oberflächen zu teuer waren, wurden Produkte entwickelt mit dünnen Schichten und Verbundwerkstoffen. Da wurden Dinge zusammengefügt, die sich nicht mehr im Kreislauf führen lassen. Davon müssen wir wegkommen und erkennen, dass es uns in die falsche Richtung lenkt. Dieses Bewusstsein sehen wir als kollektive und globale Aufgabe.

Eine Frage der Haltung …

… als Mensch wie im Beruf. Es gibt keine Bauaufgabe, die nicht auch Nachhaltigkeitsziele verlangt –da muss man auf der Höhe bleiben. Es hilft eben doch, sich früh im Projekt zu bekennen und Zielvereinbarungen zu vereinbaren. Sonst produziert man Sollbruchstellen, dass irgendwann doch Dinge unter den Tisch fallen, die am Anfang ganz wichtig waren. Eine Zielvereinbarung kann dabei eine wichtige Stütze sein.

Welches Bewusstsein?

Apropos Zielvereinbarung. Das Projekt entstand nicht als Wettbewerb …

… Es war eine Anhandgabe, der Anforderungskatalog entstand im Laufe eines Jahres, zusammen mit der HafenCity. Wir haben uns mit einer Idee für ein Grundstück beworben, wollten etwas Gesundes errichten und das Projekt wurde über einen langen Zeitraum zusammen mit der HafenCity geschärft.

Verlangt ein solches Gebäude auch ganz andere Nutzer*innen und mehr „Bewusstsein“ für den Ort?

Das hoffen wir. Moringa wird Menschen anziehen, die auf Ökologie und Gemeinschaft Wert legen. Die sozialen Aspekte sind ganz wichtig, wir sind eingestiegen mit der Frage, wie man Gemeinschaft schafft. Mindestens ein Drittel der Wohnungen sind als geförderter Wohnungsbau zu errichten. Die drei Baukörper sprechen unterschiedliche Gruppen an: geförderten und frei finanzierten Wohnbau sowie Co-Living samt einem Co-Working-Bereich, nicht zu vergessen die Kita mit 80 Kindern. Dieser Nutzungsmix ist gewünscht, und es gibt sogar eine eigene App für Co-Worker samt Angeboten, wie sie zusammenkommen.

Die großen Grünanteile müssen gepflegt werden.

Ein Gedanke war, dass die Bewohner ihr eigenes Grün auf dem Dach adaptieren. Ob das für alle etwas ist, wissen wir nicht genau – das gilt auch für die innenseitig holzbelassene Außenwand, die natürlich anders als eine Gipskartonwand zu behandeln ist. Ich jedenfalls bin sehr zuversichtlich und positiv gestimmt.

Ist Cradle-to-Cradle also die Zukunft des Bauens?

Auf jeden Fall. Unsere Rohstoffe sind endlich und wir emittieren viel zu viel, und da wir auf Kosten der nächsten Generation leben, müssen wir etwas ändern. C2C ist ein zukunftsfähiges Konzept. Nur eines müssen wir bedenken: Es geht um Baukultur. Ohne Ästhetik gibt es keine Akzeptanz. Zukunftsfähigkeit ist mithilfe der Kraft der Ästhetik am stärksten, daran glauben wir. Menschen eignen sich Dinge an, die sie gut finden. Das ist unsere Aufgabe: Hochwertig zu bauen mit einer umsichtigen Gestaltung.

kadawittfeldarchitektur
Dipl.-Arch. Jasna Moritz
Mitglied der Geschäftsleitung
Aureliusstraße 2
52064 Aachen

Bauvolumen: Grundstücksfläche ca. 4.730 m2
BGF: ca. 19.000 m2 (oberirdisch); davon ca. 11.900 m2 Wohnfläche, ca. 190 Wohneinheiten (mehr als 33 Prozent öffentlich gefördert), Tiefgarage mit ca. 400 Fahrrad- und rund 50 PKW- Tiefgaragenstellplätze, davon 30% für Car-Sharing
Bauherr: Moringa GmbH by Landmarken
Architekt: kadawittfeldarchitektur
Projektentwickler: Landmarken AG
Anhandgabe mit Ideenträgerkonzept durch die Stadt Hamburg – 2020
Realisierung: 2021-2024

Projektbeteiligte
Projektsteuerung: H+P Objektplanung Aachen GmbH, Aachen
Tragwerkplanung Gebäude / Tragwerkplanung Baugrube / Objektplanung Baugrube: ARGE MORINGA – B+G Ingenieure GbR, Frankfurt, + WTM Engineers GmbH, Hamburg
TGA-Planung: DREES & SOMMER Advances Building Technology GmbH
Brandschutzplanung: Corall Ingenieure, Meerbusch, Hamburg
Circular Engineering (Cradle to Cradle, Energiedesign, Umweltzeichen HafenCity, Bauphysik), Fassadentechnik (Fassadenplanung, Phytotechnologische Beratung, Fassadenreinigungskonzept): DREES & SOMMER Advanced Building Technology GmbH, Hamburg; EPEA GmbH – Part of Drees & Sommer, Hamburg
Cradle to Cradle Mentoring: C2C Expo LAB Manufactuur, Venlo, NL
Geotechnik Baugrundgutachter: IGB Ingenieurgesellschaft mbH, Hamburg
Freianlagenplanung: MSB LANDSCHAFTSARCHITEKTEN Partnerschaft mbB, Hamburg

Lesen Sie hier den Artikel »Die Bauwelt muss sich schleunigst ändern!«

Der Immobilienbranche geht es womöglich bald wie der Automobilindustrie, sagt Vanja Schneider. Sie muss sich radikal erneuern. Der Geschäftsführer der Moringa GmbH fordert sogar gesetzliche Verpflichtungen für mehr Nachhaltigkeit. Ein Gespräch über Mut am Bau.