Die Bauwelt muss sich schleunigst ändern!
Der Immobilienbranche geht es womöglich bald wie der Automobilindustrie, sagt Vanja Schneider. Sie muss sich radikal erneuern. Der Geschäftsführer der Moringa GmbH fordert sogar gesetzliche Verpflichtungen für mehr Nachhaltigkeit. Ein Gespräch über Mut am Bau.
Hand aufs Herz: Warum tun Sie sich den Mehraufwand für Cradle-to-Cradle mit zusätzlichen Fachplanern und Monitoring eigentlich an?
Na ja, das sollte doch für uns alle verpflichtend sein. Wir, das heißt die Bau- und Immobilienwirtschaft, sind ja auch einer der Hauptverursacher unserer ökologischen Probleme! Immerhin sind wir für 53 Prozent des weltweiten Abfallaufkommens verantwortlich, verbrauchen circa 50 Prozent der auf unserem Planeten befindlichen Ressourcen und verursachen rund ein Drittel der CO2-Immissionen. Allein bei der Zementproduktion wird doppelt so viel CO2 ausgestoßen wie beim weltweiten Flugverkehraufkommen (vor Corona). Das sind ja erschreckende Erkenntnisse und irgendetwas muss sich da auch schleunigst ändern. Für mich ist das Cradle-to-Cradle-Prinzip (wörtlich: „von der Wiege zur Wiege“) auch die logische Antwort darauf, da dabei nicht nur die Aspekte der „Kreislaufwirtschaft“ berücksichtigt werden, sondern auch Ansätze der Gesundheit und Schadstofffreiheit, der sozialen Integrität und erneuerbare Energien. Unser Hamburger Projekt gilt da als sehr richtungsweisend.
Wieviel mehr investieren Sie in das Gebäude als in ein vergleichbares Haus?
Wenn sie das Cradle-to-Cradle-Prinzip konsequent anwenden wollen, ist der Planungsaufwand höher als im Vergleich zu „konventionellen“ Projekten, zumal ein höherer Bedarf an sehr speziellen Fachfragen besteht. Beispielsweise haben wir allein für unsere begrünte Fassade neben einem Fassadenfachplaner, einen Biologen, einen auf Grünfassaden spezialisierten Brandsachverständigen sowie einen Windgutachter beauftragt.
Außerdem mache ich aktuell die Erfahrung, dass in Teilen die Produkthersteller ihre Monopolstellung ausnutzen und Preise angesetzt werden, die nicht mit „konventionellen“ Produkten vergleichbar sind. In Summe kann es dazu führen, dass die Investition um rund 10 bis 30 Prozent teurer ist. Wir müssen aber endlich davon wegkommen, dass wir bei derartigen Betrachtungen nur auf die Erstinvestition schauen.
Wie meinen Sie das?
Wir müssen weg von einer heute üblichen stichtagsbezogenen Ertrags- und Sachwertbetrachtung, hin zu einer ökologischen Lebenszyklusbetrachtung, bei der Rohstoffrestwerte und CO2-Einspareffekte eine signifikante wertbeeinflussende Größe darstellen. Wenn wir da mal hinkommen, sollte im Vergleich ein ökologisch konzipiertes Produkt günstiger sein.
Gesetzlich Verpflichtung zu nachhaltigem Bauen
Warum ist Nachhaltigkeit in diesem Umfang nicht längst Standard? In Zukunft werden doch viele Käufer und Mieter genau diese Qualitäten verlangen …
Das ist eine sehr gute Frage. In der Vergangenheit war Nachhaltigkeit für Immobilien eher fakultativ und wurde durch Marketing oder Image motiviert. Nicht zuletzt aufgrund der ESG-Initiative wird es künftig obligatorisch. Wir stehen vor massiven Veränderungen. Das, was aktuell die Automobilbranche erfährt, wird in naher Zukunft auch die Immobilienbranche erfahren. Ich persönlich bin sogar der Auffassung, dass wir noch stärker gesetzlich verpflichtet werden, nachhaltiger zu bauen. Unser heutiges Planen und Bauen ist ja derzeit „nur“ durch die Energieeinsparverordnung ENEV verpflichtend nachhaltig. Die ENEV ist da aber zu einseitig, da sie lediglich auf den Energieverbrauch ausgerichtet ist. In Teilen ist sie sogar kontraproduktiv.
Das müssen Sie erklären.
Wenn Sie im Wohnungsbau den Energiestandard erreichen wollen, müssen sie in vielen Fällen eine Wärmedämmverbundsystemfassade bauen, die aus vielen unzertrennbaren, zusammengeklebten Materialschichten besteht, die in Teilen auch noch hochgiftig sind und als Sondermüll eingestuft werden. Da frage ich mich schon: Ist das nachhaltig? Für unsere Umwelt wäre es doch viel besser, wenn Vorgaben für CO2-Emissionen und die Wiederverwendung von Materialien gesetzlich vorgeschrieben werden würden.
Wie sehen Sie sich dabei als Projektentwickler: Wie lange planen Sie das Haus zu halten?
Wir sind „Exitdeveloper“ und kein Immobilienbestandshalter. Zu gegebener Zeit werden wir uns den richtigen Käufer aussuchen, der die ökologischen und sozialen Mehrwerte auch zu würdigen weiß. Der Käufer wird im Zuge der Übergabe von uns unter anderem einen „ökologischen Bewirtschaftungskatalog“ erhalten, aus dem nicht nur die Daten für die Ökobilanz erkennbar sind, sondern er findet dort auch Demontagehinweise, Hinweise zu Rohstoffrestwerten und wer als Empfänger des Rohstoffs in Frage kommen kann.
Unabhängig davon werden wir bis zu sechs Jahre im laufenden Betrieb im eigenen Interesse den Energieverbrauch messen und ein Grünfassadenmonitoring betreiben, bei dem wir in regelmäßigen Abständen die Luftqualität am Gebäude erheben und mit einem Referenzgebäude in unmittelbarer Nachbarschaft abgleichen. Damit wollen wir unseren ökologischen Fußabdruck hinterfragen und im Sinne einer Nachschau bewerten, was zu einem positiven Effekt geführt hat und was wir beim nächsten Projekt vielleicht besser machen können.
Zukunft der Bauwirtschaft
Gutes Stichwort: Besser machen beim nächsten Haus. Gibt es schon erste Erkenntnisse, etwas, das Sie direkt aus dem Bau ableiten?
Wir sind ja noch in der Planung und reichen in April den Bauantrag ein. Ich mache ganz aktuell die erfreuliche Erkenntnis, dass die ausführenden Unternehmen für dieses Prinzip sehr aufgeschlossen sind und sich zunehmend eine Expertise aneignen wollen beziehungsweise bereits angeeignet haben. Außerdem erkennen die ausführenden Unternehmen für sich ein zusätzliches Geschäftsmodell. Das erleichtert nicht nur die Vergabegespräche, sondern es zeigt, dass dieses Prinzip als das Zukunftsthema der Bauwirtschaft angesehen wird.
Ist Moringa also ein Labor für mehr, irgendwann sogar für den Massenwohnungsbau?
Moringa ist definitiv ein Labor. Das Prinzip steckt ja noch in den Kinderschuhen. Sie können heute noch kein 100 Prozent recyclinggerechtes Gebäude bauen. Da gibt es gesetzliche, konstruktive und mentale Hürden, die es erst mal zu überwinden gilt. Ein Stück weit betreiben wir hier Forschungs- und Entwicklungsarbeit und versuchen uns bei jedem Projekt neu zu definieren und probieren Neues aus. Das spricht aktuell gegen ein Massenprodukt.
Was hat Sie dann zum nachhaltigen Bauen bewogen?
Ich habe jetzt 30 Jahre Berufserfahrung in der Bauwirtschaft und im Speziellen in der Immobilienprojektentwicklung sammeln können. Wenn ein solcher „Reifegrad“ erreicht ist, steht man häufig vor der Frage, was man im (Berufs-) Leben noch erreichen will? Will man weiter die Karriereleiter hochklettern, will man sich zur Ruhe setzen oder will man noch was bewegen? Ich habe mich da eindeutig für Letzteres entschieden. Die logische Konsequenz war es daher, sich auf das Cradle-to-Cradle-Prinzip zu spezialisieren und dabei als eine Art Wissensträger und Impulsgeber zu fungieren. Wir stehen hier am Anfang einer Bewegung und es ist doch hochmotivierend, ein bedeutender Teil dieser für uns alle zwingend erforderlichen Bewegung zu sein.
Gibt es Reaktionen von Kollegen, Mitbewerbern …?
Aber klar. Die Kollegen sind sehr interessiert und erfreuen sich über den Know-how-Transfer. Viele Dinge, die bei Moringa angewendet werden, können ja auch bei den Landmarken-Projekten zur Umsetzung gelangen. Von den Mitwettbewerbern hören wir durchweg Zuspruch und Bewunderung für den Mut, diesen Weg so konsequent zu gehen.
Lesen Sie hier den Artikel »Ohne Ästhetik keine Akzeptanz«
Jasna Moritz, Mitglied der Geschäftsleitung kadawittfeldarchitektur, über Flexibilität und Kreislaufwirtschaft beim Hamburger Wohnhochhaus Moringa, das nach Cradle-to-Cradle-Prinzipien konzipiert und errichtet wird.