Zusammenhalten: Die neue Architektur der Gemeinschaft

Gemeinschaftliches Wohnen muss keine absolute Lebensform sein

Mathias Müller, Geschäftsführer der EM2N Architekten AG Zürich/Berlin, über Wohnen in Zeiten der Wohnraumknappheit, neue Formen des Zusammenlebens und experimentelle Wohnprojekte.

Im Bild zu sehen sind: Mathias Müller & Daniel Niggli von EM2N
Die Ausstellung wurde im Kern ja bereits 2017 geplant und erstmalig im Vitra-Museum in Weil am Rhein gezeigt. Seither hat sich vor allem durch die Pandemie unser Leben grundlegend verändert. Statt „Come together“ heißt es heute eher „Stay alone“: Kontakte vermeiden, Arbeiten im Home-Office oder überhaupt, zuhause bleiben, heißt die Devise. Inwieweit tangiert Corona Ihre Sicht auf das kollektive Wohnen? Wird sich aufgrund der jetzigen Erfahrungen das Wohnen aber auch das Leben im öffentlichen Raum grundlegend verändern? Erleben wir ein Revival des „Cocooning“?

Im Gegenteil! Der öffentliche Raum war nie begehrter als während der Pandemie, die Menschen wollen sich treffen und austauschen, das Cocooning ist ja eher eine Zwangshandlung. Die Pandemie ist zudem eine vorübergehende Erscheinung, die den Megatrend zu immer mehr Kleinhaushalten nur temporär überdeckt.

Das Thema Wohnen hat das letzte Jahrzehnt in Architektur und Städtebau bestimmt: Wohnraumknappheit, vor allem preiswertes Wohnen in der Stadt, stehen im Fokus. Die Folge: eine Baukonjunktur, die sich auch vor Corona nicht zu fürchten braucht. Bauen wir aus Ihrer Sicht auch die richtigen Häuser, die zukunftsträchtige Wohnformen erlauben und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohner stärken?

Zum großen Teil leider nicht. Paradoxerweise hat sich das Bauen seit der Finanzkrise durch das billige Kapital noch stärker zu einer der wenigen Anlageklassen mit intakten Renditechancen entwickelt. Massive Preissteigerungen (Boden und Baukosten) und Knappheit sind ein Resultat dieses Nachfrageüberhangs. Das sind leider schlechte Rahmenbedingungen für unkonventionelle, experimentelle und gemeinschaftliche Wohnbauprojekte. Als Reaktion auf allzu viel einseitiges Renditestreben kehrt jedoch glücklicherweise an vielen Orten die Einsicht ein, dass es auch Wohnungsbau braucht, der der Spekulation entzogen ist.

Baugruppen und Genossenschaften erfreuen sich in den Metropolen großer Beliebtheit. Getrieben wird dieser Trend aber zumeist durch die Mittelklasse. Gepriesen wird das Ideal des durchmischten Quartiers. Was sollte geschehen, um weniger betuchten Menschen den Zugang zu Gemeinschaftshäusern oder Gemeinschaftsquartieren zu ermöglichen?

Beim vor allem in Deutschland verbreiteten Baugruppenmodell kann dieses Problem durchaus bestehen, dabei handelt es sich ja um eine Form des privaten Stockwerkeigentums. Genossenschaftlich organisierte Projekte haben da ganz andere Möglichkeiten. Sie versuchen im Normalfall mittels interner Quersubventionen und anderen Förderbeiträgen durch die öffentliche Hand einem breiten Durchschnitt der Bevölkerung bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Auch Modelle mit Erbbaurechten, die mittels Ideenkonkurrenzen vergeben werden, bieten die Chance, nicht nur dem Mittelstand, sondern allen Gesellschaftsschichten Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Voraussetzung ist jedoch, dass sich die Menschen organisieren. Und dazu soll unsere Ausstellung einen Beitrag leisten, indem sie Impulse aussendet und Mut macht.

Eine aktuelle Umfrage im Auftrag des Digitalverbands Bitkom hat ergeben, dass jeder fünfte über einen Umzug aufs Land nachdenkt, sollte er dauerhaft das Home-Office nutzen können. Als Hauptgründe nannten die Befragten das Wohnen im Grünen und geringere Mietaufwendungen. Das Landleben verbinden die meisten Menschen mit dem Einfamilienhaus, das in der Gunst vieler Menschen immer noch ganz oben steht. Haben Sie Erfahrungen mit gemeinschaftlichen Wohnformen auf dem Lande?

Die Ausstellung hat sich auf gemeinschaftliche Projekte in der Stadt fokussiert, aber es lassen sich wunderbare Beispiele im ländlichen Raum finden, beispielsweise Hofstatt Kappel von Fosco Fosco – Oppenheim Vogt oder viele Siedlungen von Atelier 5 wie Halen oder Thalmatt 1 und 2. Unter Umständen lassen sich hier (und in Kombination mit den Möglichkeiten des Homeoffice) aufgrund der oben beschriebenen Einschränkungen in der Stadt solche Gemeinschaftsprojekte auf dem Land sogar einfacher realisieren. Gemeinschaftliche hybride und nutzungsoffene Wohnkonzepte wären auf jeden Fall besser als weitere Einfamilienhäuser!

In allen deutschen Großstädten wird intensiv über den Bau von Wohnhochhäusern nachgedacht. Erlauben Wohnhochhäuser eine ähnliche Vielfalt an Wohnformen, wie sie von Ihnen in der Ausstellung angesprochen und gezeigt werden? Wie ist Ihre generelle Haltung als Architekten zu Wohnhochhäusern?

Auch Wohnhochhäuser haben ihre Berechtigung, speziell, wenn sie dazu dienen, dichter zu wohnen oder wertvollen Freiraum zu gewinnen. Erfahrungsgemäß sind Wohnhochhäuser teurer als konventionelle Geschossbauten, was zu zusätzlichem Renditedruck führt. Unter diesen Vorzeichen ist es natürlich schwierig, gemeinschaftliches Wohnen zu realisieren, welches über die individuelle Wohnfläche hinaus Gemeinschaftsflächen anbietet. Ein Versuch wird momentan auf dem Zürcher Koch Areal von der Genossenschaft ABZ mit dem Hochhausprojekt von Enzmann Fischer unternommen.

Auf die Ausstellung „Together! Bauen für die Gemeinschaft“ bezogen: Haben Sie persönlich Erfahrungen „Gemeinschaftswohnen“? Welche Ziele und Ideen verfolgen Sie mit dem Ausstellungskonzept, was erwartet den Besucher?

Wir haben beide als Studenten in verschiedenen Konstellationen Erfahrungen mit dem Gemeinschaftswohnen gesammelt, durchaus mit Höhen und Tiefen. Gemeinschaftliches Wohnen muss ja keine absolute Lebensform sein, sondern kann sich auf bestimmte Lebensabschnitte oder ökonomische Situationen beschränken.Sicherlich drängt es sich in der Familienphase weniger auf. Während des Studiums oder im Alter kann es ja hingegen schon fast als Normalfall gelten. Die Ausstellung soll breite Kreise ansprechen, spielerisch best-practice-Fälle aufzeigen, dazu anregen, über den Einzelfall hinaus über den gesellschaftlichen Beitrag nachzudenken und Mut machen für eigene Schritte.

Welche Projekte zum Gemeinschaftswohnen haben für Sie exemplarischen oder vorbildlichen Charakter?

Die in der Ausstellung gezeigten, aber sicherlich noch viele mehr. Gemeinschaftswohnen liegt im Trend, täglich kommen weltweit neue Projekte dazu, eine abschließende Aufzählung ist wohl nicht sinnvoll. Eines der spannendsten neueren Beispiele wird gerade in Zürich fertiggestellt, das Zollhaus der Genossenschaft Kalkbreite. Hier wird unseres Wissens nach zum ersten Mal im großen Stil «Hallenwohnen» im Neubau realisiert. Dazu existiert auch ein spannender Dokumentarfilm: https://www.youtube.com/watch?v=DAls4HZfXfg