Zukunft gestalten:
Statements zum neuen Jahr!

Statements zum neuen Jahr! Das letzte Jahr hatte es wahrhaft in sich. An Herausforderungen mangelt es  gerade nicht. Und man weiß gar nicht, womit anfangen, zumal sich der Kontext laufend ändert. Wir haben einige Köpfe unseres Netzwerks befragt, wie sie das Jahr 2023 angehen, was sie beschäftigt, was sie positiv oder kritisch sehen, was aus ihrer Sicht passieren sollte. Die Antworten fallen so unterschiedlich wie die Lage aus, aber alle eint der konstruktive Blick auf das, was vor uns liegt.

Mit Beiträgen von Klaus Burmeister, Verena Brehm, Christian Heuchel, Karin Loosen, Peter Pauls, Nathalie de Vries, Antonino Vultaggio, Theresa Keilhacker, Kathrin Fändrich, Regula Lüscher, Jasna Moritz.

Zukunft gestalten!

 

1. Klaus Burmeister, Geschäftsführer, foresightlab, Berlin
Foto: © SCMI

Was wäre wenn?

Was tun? Wäre die Antwort einfach. Wäre diese Frage nicht gestellt worden. Ich schwanke bei der Antwort. Wäge ab. Mein Herz sagt: Jetzt sofort und radikal handeln. Mein Verstand sagt: Es ist ein schwieriger Prozess, es gilt die Mitte mitzunehmen, ohne die Schwächeren zu vergessen, auch nicht die Demokratie und auch nicht…, sagt mein Verstand.

Es wird Konflikte geben. Welche wären auszuhalten? Welche nicht? Man braucht schon eine Vision. Oder besser einen Zielkorridor. Einen, der Raum für Kompromisse bietet. Also nicht die eine Vision, nicht die eine Zukunft. Aber einen Zukunftsraum, der wünschenswerte und notwendige Zukünfte verbindet und weitere Fragen zulässt.

Was wäre das Ziel? Für mich: Eine Gesellschaft, die offen und tolerant ist, die sich bewegt und dadurch lernt, die Teilhabe ermöglicht und dadurch lebt, die weiß, dass schöpferische Zerstörungen unvermeidlich sind, weil Neugier und Wissen uns treiben. Aber wir werden ein neues Selbstverständnis benötigen. Eins, dass uns als Herrscher der Welt entthront. Wir sind nur ein Teil des Ganzen. Ein Teil, der nicht ohne die anderen Teile existieren kann. Im Zeitalter des Anthropozäns fast eine Binsenwahrheit, aber für viele eine Zumutung.

Gedanklich leitet mich das Bild von der großen Transformation. Sie wäre ein Paradigmenwechsel für Wirtschaft und Gesellschaft. Einer, der unsere Austauschprozesse mit der Um- und Mitwelt grundlegend neu konfiguriert. Vereinfacht erscheint mir das „1,5 Ziel“ dafür die schlichte und allgemeinverständliche Formel zu sein. Wenn wir uns allerdings dem Ziel notgedrungen nähern, wir erleben es gerade, ist es so, als öffneten wir die Büchse der Pandora.

Ein Wirrwarr von Stimmen, Meinungen, Positionen und Interessen. Es fehlt eine Orchestrierung. Was wäre, wenn… Wenn nach der Zeitwende-Rede des Kanzlers eine Rede folgen würde, die zur aktiven Gestaltung unserer Zukunft einlädt? Es wäre ein echte Gemeinwohlaufgabe, die jede Parteien oder Koalition überfordert. Eine solche bislang ungehaltene Rede würde Konflikte und Transformationsfelder benennen. Sie könnte daran erinnern, dass wir uns bereits langfristige Ziele gegeben haben. Erinnert sei nur an das durch den Spruch des Bundesverfassungsgerichtes vom April 2021 verschärfte Klimagesetz, demnach Deutschland 2045 klimaneutral sein soll. Sie würde aber offen eingestehen, dass die Regierung auch nicht den Masterplan für die Transformation besitzt. Deshalb würden kreative und robuste transformative Lösungen und Missionen für alle zentralen politischen Handlungsfelder, von Energie und Mobilität über Bildung und Bauen bis zu den sozialen Sicherungssystemen gesucht. Die Missionen, die sich an den SDGs der Vereinten Nationen orientieren, so die Einladung, sollten weder von den Interessen der Automobilindustrie dominiert werden, noch von Einwänden der Verbände. Innenstädte und das Wohnen könnten als öffentliche Angelegenheit verstanden werden, bei der das Eigentum sozial verpflichtet.

Die Einladung wäre substanziell mit neuen Ansätzen verbunden, einem sozial-innovativen Wumms, um die Pforten der Transformationsfelder breit zu öffnen. Es ginge darum, einen dauerhaften Wettbewerb von Ideen zu entfachen. Es ginge eben nicht nur um „Projekte“. Es ginge um unsere Zukunft, die uns alle angeht. Es ginge um einen Kurswechsel. Er wäre es, der erst eine Zeitenwende fundiert. Es ging um Erprobungen. Es ginge auch um neue Allianzen aus Unternehmen, Start-ups, Kreativen, Umweltverbänden und Städten und Regionen. Es ginge um neue dezentrale Freiheitsgrade, die nur der Transformationskorridor begrenzen würde. Mit einer solchen Einladung würde der Staat sich nicht verabschieden. Er würde das Spielfeld abstecken und die Spielregeln bestimmen. Nur er verkörpert das Gemeinwohl, nicht Unternehmen, Wissenschaftler oder Zivilgesellschaft. Hier ist der Staat ganz Souverän. Es wird Halb- oder Drittelzeiten geben. Spieler werden ausgewechselt werden, auch die Trainer sind davor nicht sicher. Alles ist in Bewegung, was Unsicherheiten hervorruft. Deshalb wird es große Ratschläge und ein fortwährendes Gespräch in Zoom-Meetings, Kongressen, Foren, Tagungen, Symposien, Vereinssitzungen geben müssen, auch noch unbekannte Mediationsverfahren in Grundsatzfragen. Und Samstagsabends zur besten Sendezeit fände das wieder belebte „Spiel ohne Grenzen“ statt. Ein Spiel bei dem die gewinnen, die mit Grips und Herzblut zeigen, wir schaffen mehr als Dschungelcamp, Lanz, hart aber fair oder die Quizshows zusammen. Wir erfinden Deutschland neu, weil wir es können und wollen!

Man darf ja mal weiterdenken. Noch sind viele Fragen offen, Fragen einer neuen Sicherheitsarchitektur oder der Rolle von Europa in einer multipolaren Welt. Noch mag die Orchestrierung fehlen. Auch wird es keinen Maestro geben, was mein Wunsch wäre. Deshalb sind wir in der Demokratie gefordert, die Transformation zu schaffen. Den Taktstock wird die Improvisation führen, die Melodie ergibt sich aus dem kreativen Zusammenspiel der Beteiligten. Die Partitur, das ist anders als im Konzertsaal, kennt jeder: Es geht um unser aller Zukunft.

Klaus Burmeister ist Gründer von Z_punkt und dem foresightlab. Er hat die Initiative „Deutschland 2030“ ins Leben gerufen und ist Vorstand des Vereins. Der gelernte Starkstromelektriker war nach dem Studium der Politologie in Hamburg und Berlin am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) sowie beim Sekretariat für Zukunftsforschung (SFZ) tätig. Die Gestaltung transformativer Übergänge ist Leitthema seiner vielfältigen Foresight-und Szenario-Projekte sowie Publikationen.

 

 

2. Verena Brehm, Prof. Dr.-Ing. Architektin, Gründungspartnerin CITYFÖRSTER architecture + urbanism, Hannover
Foto: © Voy

Lasst uns in die Umsetzung kommen.

Unsere Branche kann einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen der großen Transformation leisten; Boden-, Bau-, Ressourcen-, Energie-, Verkehrswende – hier sind wir als Planende, Gestaltende, Bauende in zentralen Rollen gefragt. Was mir Sorgen bereitet? Wir müssen schneller werden. Einige Beispiele: Material- und Bauteilrecycling sind noch Nischenprodukte/-projekte und müssten in breiter Masse Anwendung finden; Hoffnung machen mir Initiativen und Pioniere von Madaster, Concular, Urban Mining Index, die als Katalysatoren wirken, sowie mutige Auftraggeber:innen und Projekte mit Modellcharakter (Rathaus Korbach, Recyclinghaus Hannover). Städtebaulich sind wir von dem für 2020 (!) anvisierten „30-Hektar-Ziel“ noch weit entfernt. Täglich werden ca. 54 ha neu ausgewiesen, zumeist versiegelt, mit negativen Auswirkungen auf Umwelt und Klima. Gleichzeitig liegen im Innenbereich der Städte große Flächen brach oder sind untergenutzt (bundesweit ca. 150.000-176.000 ha). Durch die Umwidmung und Neuverteilung von Verkehrsflächen könnten wir Entsiegeln, Flächen für Vegetation, Biodiversität, Mikroklimaverbesserungen und soziale Teilhabe zurückgewinnen sowie der Mobilitätswende eine stadträumliche Kraft verleihen: Orte schaffen für Rad- und Fußverkehr, Sharing-Konzepte, die zu einem gesunden, schnellen und ökologischen Bewegen in der Stadt verführen.Hier müssen wir als Planer:innen und Gestalter:innen mutig sein und Kommunen mit politischem Willen und ämterübergreifenden Taskforces der Komplexität der (zügigen) Umsetzung gerecht werden.

Flächenpotentiale bietet auch die Siedlungsebene 2.0, die Dachbrachen der Citylagen (Kaufhäuser, Parkhäuser, Bürohäuser), aber auch der Siedlungen der 1950er bis 70er Jahre (vgl. u.a. Pestel Institut / TU Darmstadt, Deutschlandstudie 2016 + 2019). Die Hemmnisse für solche Aufstockungsprojekte (und allgemeiner das Bauen im Bestand), die sich aus (zu hohen) Anforderungen des Brand-/ Wärme-/Schallschutzes oder überholten Stellplatzsatzungen ergeben, müssen reduziert werden; Vorschläge dazu – Umbauordnung, Gebäudeklasse E etc. – sind da; lasst uns in die Umsetzung kommen!

Prof. Dr. Verena Brehm ist Gründungspartnerin von CITYFÖRSTER architecture + urbanism und Professorin für das Fachgebiet „Entwerfen im städtebaulichen Kontext“ an der Universität Kassel. Ihr Arbeitsfeld sind städtische Transformationsprozesse. Im Fokus stehen dabei Projekte zur Förderung einer sozial und funktional gemischten Stadt, „DiverCity“, einer nachhaltig mobilen Stadt, „Mobil(C)ity“, sowie Arbeiten zum Thema Kreislaufwirtschaft, „Circular City“.

3. Christian Heuchel, Prof. Dipl.Ing. Architekt BDA und Stadtplaner, Geschäftsführender Partner der O&O Baukunst GmbH Köln
Foto: © Tim Löbbert

Mäusemelken und eierlegende Wollmilchsau

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Es ist schon zum Mäusemelken, schaut man auf die vergangenen Jahre zurück und blickt auf das Neue. Wieder aufgetaucht sind die uralten ungelösten Probleme: die Zukunft der Stadt und der Umgang mit der Landschaft, die begrünten Fassaden als Klimaretter, die autonome Elektromobilität, die immerwährende Wohnungsnot. Unter dem Deckmantel der neuesten Erkenntnisse werden die Wünsche durch unsere Dörfer getrieben. Als kleiner Architekt mit zahlreichen Großprojekten haben mich die Forderungen irre gemacht. Als Baumeister inmitten des Geschehens bin ich fortwährend mit den Fragen an unsere Disziplin konfrontiert. Mit unseren Visionen soll die Welt gerettet, der allgemeinen Zerstörungswut entgegengetreten werden, aber was hat das alles mit Baukunst zu tun? Vorbei sind die geliebten Zeiten der noblen akademischen Diskussion über Architektur und Stadtbaukunst. Die Stadt baut sich selbst und entsteht nicht im Schädel des Architekten. Jetzt wird es ernst, wenn wir zusammen mit den Bürgern die eierlegende Wollmilchsau erfinden sollen. Dennoch freue ich mich, im Urschleim der Architektur zu schwimmen, um Vorschläge für ein Leben zu machen, das genauso aussieht, wie wir es schon kennen. Schließlich können wir durch die demütige Ausübung unseres Handwerks nichts weniger als dem niemals endenden Wunsch nach Geborgenheit in den Städten und einem normalen Zusammenleben gerecht werden.

Prof. Christian Heuchel ist Künstler, Architekt, Stadtplaner und Hochschullehrer. Er studierte Architektur in Karlsruhe und Baukunst an der Kunstakademie Düsseldorf. Er ist Gründer der Architektengemeinschaft rheinflügel, des Künstlerbüros Heuchel Klag und des Künstlerkollektivs ULTRASTUDIO. Als geschäftsführender Gesellschafter von O&O Baukunst führt er die Standorte Köln und Wien. 2020 wurde er zum Member of the Advisory Board des Fachbereichs „Art and City“ an der Universität Complutense Madrid berufen. Seit 2021 hat er eine Honorarprofessur an der Kunstakademie Düsseldorf und ist er als Stadtplaner tätig. Sein neuestes Buch „derarchitektmitderpuppe KUNST BAU PUNK“ gibt Impulse zur Beseelung moderner Architektur.

4. Karin Loosen, Dipl.-Ing. Architektin, Partnerin, LRW Architekten und Stadtplaner PartG mbB, Hamburg

Wir stehen vor einer Grunderneuerung.

Wir leben nun in einem Zeitalter großer Transformationen. Das haben uns die einschneidenden Ereignisse im letzten Jahr unwiderruflich verdeutlicht: Bedrohlicher Angriffskrieg in Europa, nur noch kaum aufhaltsamer Klimawandel, Energie-, Konjunktur- und Baukrise. Unser Umgang mit Umwelt, Wirtschaft, Politik und Technologie steht vor einer Grunderneuerung – eine historische „Zeitenwende“. Aber wie damit umgehen?

Der Berg der zu bewältigenden Herausforderungen scheint riesig. Verunsicherungen, Ängste, Fragezeichen…viele unserer bewährten Rezepte funktionieren nicht mehr, wir suchen neue Leitbilder – für unser tägliches Leben, für unser fachliches Wirken.

Wir leben in komplexen Systemen. Sie sind in sich, aber auch untereinander vernetzt.  Das merken wir täglich, insbesondere wenn eine Stellschraube in der Handlungskette auf einmal stockt.  Komplexe Systeme benötigen vielfältige Beziehungen. Sie bestimmen, wie komplexe Systeme funktionieren. Auf diese müssen wir unsere Aufmerksamkeit und unser Engagement richten. Wenn wir zu mehr nachhaltigem Handeln gelangen wollen, müssen wir mehr die Zusammenhänge verstehen und nicht nur einzelne Symptomen behandeln. In allen Bereichen unseres Lebens und Arbeitens.

Als sinnsuchende und kooperative Wesen suchen wir nach Geschichten, mit denen wir unsere Welt verstehen, erklären und entwerfen, unsere Entscheidungen argumentieren und umsetzen. Klare Prioritäten sind notwendig und das Erzählen neuer Geschichten, im Sinne von wünschbarer Zukünfte. Zur Orientierung, Motivation und Zuversicht. Krisen sind Chancen, im Vergehen steckt Entstehen.

Wir brauchen mehr Zusammenwirken und gemeinsames Handeln. Für neue Communities, in unseren Planungs- und Verwaltungsabläufen, in der Digitalisierung, bei der Kreation neuer Nerzwerke. Wir müssen unseren Kompass neu finden mit hoher Kreativität und Courage.

Karin Loosen, Studium der Architektur an der TH Darmstadt. Seit 1996 eigenes Büro LRW Architekten und Stadtplaner. Vorsitzende des Bundes Deutscher Architekten und Architektinnen BDA der Freien und Hansestadt Hamburg e. V., Beginn des Aufbaus vielfältiger Kontakte zu Verwaltung und Politik, Bauwirtschaft, Verbänden und diversen stadtkulturellen Instutionen Hamburgs. Seit 2014 Präsidentin der Hamburgischen Architektenkammer. Vorstandsmitglied der Bundesarchitektenkammer. Seit 2014 Beiratsmitglied der HafenCity Hamburg GmbH. Seit Mai 2017 stv. Vorsitzende des Beirates der Bundesstiftung Baukultur. Seit Mai 2019 Mitglied der Stadtgestaltungskommission München. Seit 2021 Mitinitiatorin und Vorstandsvorsitzende der Hamburger Stiftung Baukultur.

5. Peter Pauls, Vorsitzender Kölner Presseclub, ex. Chefredakteur Kölner-Stadtanzeiger

Wir haben viel selbst in der Hand.

Ich würde nächstes Jahr gerne jünger werden. Vielleicht gleich zehn Jahre? Das ist nicht einfach, ich weiß. Aber es gibt so viel, was ich gerne noch ausprobieren möchte. Corona hat unserem Kölner Presseclub einen Innovationsschub beschert. Seit meiner Pensionierung bin ich dessen Vorsitzender. Um sichtbar zu bleiben, begannen wir mit einem schlichten Newsletter, der heute professionell rüberkommt. Und wir nutzten konsequent Social Media. Gerade probieren wir uns an Tik Tok als neuem Kanal. Digital hat sich der Kölner Presseclub mit seinen Interviews und Diskussionsforen zu einer Marke entwickelt. Ein Freund ist die Agentur 923b geworden, die uns unter die Arme greift, wenn Werbung besonders gut werden soll. Sollte jedenfalls wieder ein Lockdown kommen – wir sind gerüstet. Solange es ohne geht, freuen wir uns an unseren gut besuchten Veranstaltungen. Wäre ich 20 Jahre jünger, würde ich mich wohl selbstständig machen. Wir leben in Zeiten, in denen alles möglich. Im Schlechten, sicher. Corona, Klimawandel, Krieg. Aber auch und vor allem im Guten, denn wir haben wirklich viel selbst in der Hand.

Peter Pauls, 1953 geboren, Gymnasiallehrer, den es in den Journalismus verschlug. Über die Jahrzehnte als Politikchef, Afrika-Korrespondent, Chefredakteur und Verlagsmanager tätig. Seit einigen Jahren Vorsitzender des Kölner Presseclubs.

6. Nathalie de Vries, Principal Architect, Director, MVRDV, Rotterdam NL
Foto: © Barbra Verbij

Zukunft ist jetzt!

Mein Motto wird wie immer lauten: ‚Die Zukunft ist jetzt‘. Als Architekten und Stadtplaner müssen wir ständig weiter lernen und träumen. Lassen Sie uns optimistisch sein: Als professionelle Gestalter im räumlichen Bereich haben wir die Fähigkeit, clevere Möglichkeiten zu schaffen, um immer mehr Funktionen so zu kombinieren, dass alle davon profitieren.

Nathalie de Vries (Appingedam, 1965) ist Gründungspartnerin von MVRDV, Architektin und Stadtplanerin und die „DV“ in MVRDV. Sie ist AIA Honorary Fellow und RIBA International Fellow. De Vries ist außerdem Stadtarchitektin für die Stadt Groningen und Professorin an der TU Delft.

7. Antonino Vultaggio, Dipl.-Ing. Architekt, Senior Partner, HPP Architekten GmbH, Düsseldorf
Foto: © HPP Architekten, Chris Rausch

Ein „weiter so“ ist nicht mehr möglich.

Die Welt um uns herum scheint durch die vergangenen und aktuellen Ereignisse aus dem Lot geraten zu sein und verunsichert viele Menschen. Die disruptiven Ereignisse haben sich beschleunigt und den Druck auf alle Akteure erhöht; ein „weiter so“ ist nicht mehr möglich. Gewohnte Benchmarks haben sich aufgelöst und neue innovative Lösungen sind gefragt, um eine bessere Welt zu gestalten, in der wir im Einklang mit unserem Planeten leben können. Ökoeffizienz und Klimaresilienz, gepaart mit zirkulärem Denken und Handeln, sind für mich aktuell die gebotenen Handlungsfelder, um diese Ziele zu erreichen.

Gesellschaftlicher Wandel aufgrund sich verändernder Rahmenbedingungen ist nichts neues. Ereignisse wie Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Energiekrisen haben jeweils zu neuen Bauaufgaben und Ästhetiken geführt. Jede Zeit hatte ihre Herausforderungen, aus der neue Lösungen hervorgegangen sind. Das sollte uns positiv auf eine bessere Zukunft stimmen und motivieren beherzt unsere Aufgabe anzugehen.

Antonino Vultaggio arbeitete nach seinem Architekturstudium in Frankfurt am Main bei KSP Jürgen Engel Architekten, zunächst in der Bearbeitung von Wettbewerben, seit 2007 als stellvertretender Leiter Entwurf. 2010 kam er zu HPP, wo er die Leitung des Entwurfs übernahm. 2012 wurde er zum Projektpartner, 2018 zum Partner und 2021 als Senior Partner in den Gesellschafterkreis der HPP Architekten GmbH berufen. Er engagiert sich für Themen rund um die nachhaltige Transformation bei HPP und verantwortet dort u. a. das C2C-inspirierte Holzhybrid-Bürogebäude ‚The Cradle‘ in Düsseldorf oder den Bereich Sportbauten mit Projekten wie dem Europa-Park Stadion in Freiburg.

8. Theresa Keilhacker, freischaffende Architektin, Bürogemeinschaft mit Boris Kazanski in Berlin
Foto: © Bettina Keller Fotografie

Nachhaltigkeit als Gemeinschaftswerk

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Der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE), der unabhängig seit 2001 die Bundesregierung berät, hatte letzten September zu seiner 21. Jahreskonferenz in Berlin geladen. Das Thema dieses Treffens könnte ein Motto für 2023 sein: „Nachhaltigkeit als Gemeinschaftswerk“.

2023 steht viel auf der Agenda: Wir müssen gegen den Instandhaltungsrückstau der öffentlichen Hand angehen. Der hat uns schon viel zu viel wertvolle Bausubstanz gekostet. Es gilt Bestandsertüchtigung vor Neubau!

Deshalb sollten wir gleichzeitig dem spekulativen Abriss Einhalt gebieten. Natürlich greift man da mit Verboten sehr leicht in Eigentumsrechte ein. Trotzdem unterstütze ich – zusammen mit der Architektenkammer Berlin und vielen weiteren Engagierten aus Wissenschaft, Verbänden und Zivilgesellschaft – die Forderung nach einem bundesweiten Abrissmoratorium. Zumindest müssen wir das Abreißen viel, viel schwerer machen – zum Beispiel mit einer klugen umweltbewussten (Um)Bauordnung, wie wir sie in Berlin seit Monaten fordern.

Gleichzeitig müssen wir bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen. Durch sanieren, umbauen, energetisch ertüchtigen, behutsam den Bestand ergänzen und aufstocken. Und wir brauchen mehr Freiheiten für das Planen und Bauen. Der „Gebäudetyp E“ wie „einfach“ oder „experimentell“, ist da ein Kernanliegen.

Die spannenden Aufgaben werden uns 2023 nicht ausgehen. Was wir tun, hat Relevanz für unsere Gesellschaft. Politisch, aber auch direkt und konkret. Das gilt umgekehrt genauso: Wie eng und wie offen wir mit anderen zusammenarbeiten, entscheidet darüber, wie gut es uns gelingen wird, ökologische, ökonomische und soziale Kriterien in Balance zu bringen. Genau das ist unsere Aufgabe: Nachhaltigkeit als Gemeinschaftswerk zu etablieren. Ich wünsche uns Allen Gesundheit, Kenntnisreichtum und eine glückliche Hand dafür!

 

Theresa Keilhacker ist freischaffende Architektin, seit 1998 arbeitet sie in einer Bürogemeinschaft mit Boris Kazanski in Berlin. Sie war von 2005 bis 2013 Vorsitzende des Ausschusses Nachhaltiges Planen und Bauen der Architektenkammer Berlin, seit 2007 ist sie Mitglied im Rat für Stadtentwicklung. Von Mai 2013 bis April 2017 vertrat sie als Vizepräsidentin die Architektenkammer Berlin und war unter anderem zuständig für Stadtentwicklung und Nachhaltiges Planen und Bauen, sowie den Aufbau und die Pflege internationaler Kontakte. 2014 wurde sie in die Kommission für nachhaltiges Bauen (KNBau) am Umweltbundesamt berufen. Ein Ziel der KNBau ist es, die wissenschaftliche Diskussion zum nachhaltigen Bauen in die Praxis zu bringen. Theresa Keilhacker ist Mitglied im Netzwerk AfA – Aktiv für Architektur. Seit Mai 2021 ist sie Präsidentin der Architektenkammer Berlin. Im März 2022 wurde Theresa Keilhacker von der Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz, Bettina Jarasch in den Klimaschutzrat Berlin berufen, im Juni 2022 in den Expert*innen-Rat des Climate Change Center (CCC).

9. Kathrin Fändrich, Baudirektorin, Bereichsleiterin Hochbau, Staatliches Bauamt Augsburg
Foto: © Michael Siebert

Wenn wir nicht umdenken sind wir bald Andenken.

Auch in der Bauverwaltung findet gerade ein Wandel statt. Und wir werden immer mehr. Seit Corona und verstärkt noch infolge des Ukraine-Krieges leiden auch die staatlichen Baustellen unter Lieferengpässen. Baumaterial kann nur noch schwer oder teilweise gar nicht mehr geliefert werden. Die Kosten explodieren, vieles muss umgeplant werden, manches lässt sich nicht mehr realisieren. Eine völlig unvorhergesehene Pandemie hat nicht nur den Alltag in Familien, Schulen und Büros durcheinandergewirbelt. Auch auf den Baustellen muss ein Umdenken her. Alles ist knapp und teuer geworden. Nicht erst durch die Pandemie, aber dadurch verstärkt, erscheinen uns Bauteile viel wertvoller als noch ein paar Jahre zuvor. Wegwerfen wäre vielleicht bequem, weil es schneller ist. Aber kann man sich diese Bequemlichkeit noch leisten? Im letzten Jahr habe ich gemeinsam mit der Hochschule Augsburg ein Pilotprojekt gewagt: Die Bauteile eines Abbruchgebäudes, das einem Neubau weichen musste, wurden über Concular zum Verkauf angeboten. Viel Spott und Hohn haben wir bis zur Realisierung unseres Pilotvorhabens aushalten müssen. Von „es rentiert sich nicht“, bis „dafür gibt es doch keine Abnehmer“ und den üblichen typisch deutschen Fragen nach der Haftung war alles dabei.

Unser Pilotprojekt ist nun abgeschlossen. Mehr als 80% der angebotenen Bauteile wurden verkauft. Die Käufer sparen sich Geld, wir als Bauherr reduzieren die Deponiekosten, wir alle sparen Energie.
Mit diesem Projekt haben wir gezeigt, dass eine Systemveränderung im Bau möglich ist. Es ist die Generation nach uns, die mit dem immensen Bauschutt leben muss, den wir produzieren und täglich auf die Deponie fahren lassen.

Wir haben in der Praxis einen gangbaren Weg vorgezeichnet. In Augsburg haben wir im Kleinen begonnen. Jetzt muss es aufs Große ausgeweitet werden. Mit diesen Erfahrungen im Gepäck mache ich mich in diesem Jahr auf den Weg und sag es jedem, der mir begegnet: Wir müssen aufhören zu verschwenden.“

 

Kathrin Fändrich leitet in Augsburg den Bereich Hochbau mit rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie verantwortet dort staatliche Um- und Neubauten sowie Denkmalpflege-Projekte, wie die derzeitige Instandsetzung des Augsburger Doms. Zuvor war sie Pressesprecherin am Bayerischen Innenministerium bevor sie im Anschluss das Pressereferat am Bayerischen Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr leitete. Sie studierte Architektur an der TU München sowie am Istituto d’architettura di Venezia und absolvierte nach Erfahrungen in Architekturbüros den höheren bautechnischen Verwaltungsdienst in Bayern.

10. Regula Lüscher, Dipl. Architektin ETH/BDA, seit 2022 Büro Die Stadtmacherin für Architektur Stadtentwicklung Management, Winterthur/Schweiz
Foto: © www.andreakueppers.com

Persönliches Verhalten hinterfragen und sich anders organisieren.

Die Klimawende ist nur mit den Menschen zu bewältigen, denn neben technologischer Innovation müssen alle ihr Verhalten ändern. Ich zum Beispiel fliege nicht mehr, habe kein Auto und habe meinen persönlichen Quadratmeterverbrauch um 35% reduziert. Nach der erfolgreichen Erprobung bleibe ich auch 2023 dabei.Trotzdem kann ich sämtliche beruflichen Verpflichtungen zur vollen Zufriedenheit meiner internationalen Kundschaft erfüllen.

Meiner Ansicht nach reicht es nicht Vorträge über klimaresilienten Städtebau, klimaneutrales Bauen oder die Schwammstadt zu halten. Jeder und jede muss auch das persönliche Verhalten hinterfragen und sich anders organisieren.

Regula Lüscher, Staatsbürgerin von D und CH, Architekturstudium an der ETH Zürich, 1989 Gründung des eigenen Architekturbüros in Zürich und Lehrtätigkeiten, 1998 – 2007 Stellv. Direktorin Amt für Städtebau, Zürich, 2007- 2021 Senatsbaudirektorin/Staatssekretärin für Stadtentwicklung in Berlin, Honorarprofessorin Universität der Künste Berlin. Seit 2022 betreibt sie als Expertin für Architektur, Stadtplanung, Management und Frauenförderung ein eigenes Büro www.stadtmacherin.ch , ist vorwiegend beratend tätig, juriert international, ist Mitglied der Stadtbildkommission Basel und der Akademie der Künste Berlin.

11. Jasna Moritz, Dipl.-Ing. Architektin, Partnerin und Mitglied der Geschäftsleitung kadawittfeldarchitektur
Foto: © Carl Brunn

Transformation braucht Kreativität und Zuversicht.

„Das machen wir so wie immer“ gehörte noch nie zu unserer Zauberformel bei kadawittfeldarchitektur. 2023 gewinnt diese Haltung drastisch an Gewicht – die multiplen Herausforderungen wiegen schwer.

Wir müssen uns verändern
Seit 2020 beschäftigen wir uns mit unserem internen Strukturwandel und fühlen uns gut gewappnet. Der regelmäßige Austausch macht aus Mitarbeiter*innen echte Aktivposten, intern wie extern. Gemeinsam diskutieren wir die Zukunft unseres Büros. Die Aufgaben sind vielfältig. Es hilft diese auf verschiedene Schultern zu verteilen und das Wissen von Vielen am Tisch zu haben. Zudem freut sich das Gemüt über Gespräche mit Gleichgesinnten, ob mit internen oder mit externen Protagonisten. Kollektiver Austausch … in turbulenten Zeiten mit therapeutischer Wirkung.

Das richtige Mindset hilft
Wir sind dankbar für die steigenden Erkenntnisse beim zirkulären Bauen. Jeder „Anwendungsfall“ bringt uns weiter und wir lernen, den Abwägungsprozess präziser zu steuern.

Die Symbiose der guten Gestaltung mit durchdachten klimagerechten Maßnahmen und sozialem Mehrwert ist für jedes Projekt eine motivierende Herausforderung. Als Architekt*innen können und müssen wir einen aktiven Beitrag für die soziale Stabilität in unserer Gesellschaft leisten. Gemeinschaft und Begegnung als demokratischen Gewinn zu kultivieren, ist aktuell wichtiger denn je.

Wir suchen bewusst gesellschaftsrelevante Themen. Bestand zu wahren, mehr Sekundärmaterialien und Bauteile wiederzuverwenden und massentauglichen zirkulären Wohnungsbau auszuloten, das sind klare Ziele für 2023.

Gutes Werkzeug – geteilte Arbeit
Wir investieren dieses Jahr verstärkt in eine agile IT-Struktur. Digitalisierung schreitet dynamisch voran und wir beobachten sehr aufmerksam die Entwicklung. Dieses Potential nicht auszuschöpfen, verbietet sich auf lange Sicht. Die Kolleg*innen wissen es zu schätzen und erklären uns gerne den Benefit bei der Arbeit.

Unseren 3D-Standard zirkularitäts- und BIM-konform zu verknüpfen und somit Künstliche Intelligenz als analytische Entscheidungshilfe zu etablieren, ist ebenso erklärtes Ziel für 2023. Das wird unseren Planungsalltag durchdringen und die Projekte auf ein profundes Nachhaltigkeitslevel heben. Alle Planer müssen autark befähigt werden, zirkulär und lebenszyklusorientiert Projekte zu entwerfen. Nur so werden unsere Klimaschutzbestrebungen in der Baubranche breit und wirkungsvoll.

Transformation braucht Kreativität und Zuversicht … das ist doch voll unser Ding!

Jasna Moritz (*1971) studierte Architektur an der RWTH Aachen. Seit Ihrem Diplom im Jahr 1999 ist sie bei kadawittfeldarchitektur in Aachen tätig, wo sie 2011 Mitglied der Geschäftsleitung und 2016 Partnerin wurde. 
Sie verantwortet die strategisch-inhaltliche Begleitung diverser Projekte mit Schwerpunkt auf zukunftsfähigem Bauen. Dazu zählen das Nullenergiehaus NEW Blauhaus in Mönchengladbach, das C2C-inspirierte RAG Kreislaufhaus im UNESCO Welterbe Zollverein (DGNB Zertifikat Platin), das LVR-Haus in Köln (Zertifizierungsziel DGNB Platin; C2C-inspiriert; in Planung) und das Wohnhochhaus Moringa in der HafenCity (C2C-Prinzip, Zertifizierungsziel Umweltzeichen HCH Platin; in Planung).

www.kadawittfeldarchitektur.de