VERÄNDERUNG

Reales Einkaufen ist eine gute Alternative zu Tinder!

»Leidensdruck ist ein Motor für Veränderung«, sagt Bestsellerautor Stephan Grünewald. Der Psychologe und Managing Partner der rheingold GmbH & Co. KG spricht über die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels, die Zukunft der Stadt sowie über die besondere Verantwortung von Architekt*innen als Bildgeber der Veränderung.

2020 war das Jahr der Einschnitte, des Wandels. Alles zugleich stürmte auf uns ein: Corona, Klimawandel, digitale Disruption. Was suchen Menschen in Zeiten schneller Veränderung?

Die Verunsicherung hat die Menschen getroffen, weil wir früher in einer Sphäre lebten, die ich als „digitalen Absolutismus“ bezeichnet habe. Viele hatten das Gefühl, sie seien allmächtig, weil sie via Smartphone und Digitalisierung alles im Handstreich kontrollieren oder in die Wege leiten konnten: geschäftliche Transaktionen, das Weltwissen ergooglen, selbst Partner konnten sie tindern. Diese Sphäre gottähnlicher Allmacht geriet an ein Virus, das unseren kompletten Alltag auf den Kopf stellte und uns mit dem Gefühl konfrontierte, potentiell ohnmächtig zu sein, weil wir einer Bedrohung ausgesetzt sind, die wir nicht wahrnehmen können. Und das ist auch das, was Menschen von Anfang an beschäftigte – dass sie doch nicht ganz so ohnmächtig sein wollten. Sie wollten etwas tun.

An was denken Sie da?

Angefangen vom Hamstern bis hin zum Frühjahrsputz, der letztes Jahr etwas martialischer ausgefallen ist, weil man in privaten Bodenoffensiven sichtbar Schmutz zur Strecke bringen konnte, bis hin zum Klopapier, mit dem man seine „Geschäftstüchtigkeit“ auch in der Krise unter Beweis stellte. Selbst der Lock-down war eher ein verzweifelter Versuch, dem Virus etwas entgegenzusetzen. Das komplette Runterfahren schien besser, als das Gefühl, nichts ausrichten zu können.

Erklärt das auch die zahlreichen Demonstrationen?

Die Querdenker behelfen sich durch einen einfachen Trick: Sie tauschen die Bedrohung. Für sie ist nicht das Virus der Aggressor, sondern der Staat, der sie in den Freiheitsrechten beschränkt und mit der Maske bevormundet. Dadurch haben sie ein sichtbares Gegenüber, gegen das man viel einfacher vorgehen kann.

Anfangs sprachen Sie von menschlicher Hybris. Fühlen sich solche Krisen etwa an wie alttestamentarische Strafen, die über die Menschheit hereinbrechen und sie an ihren angestammten Platz erinnern sollen?

Gedanken wie diese begegnen uns bei vielen Interviews als Subtext: Dass vieles unbewusst als himmlische Strafe wahrgenommen wird. Wir haben uns versündigt durch das „höher, schneller, weiter“, mit unserer Maximierungskultur an der Umwelt und den Tieren. Das habe nun dazu geführt, dass wir nicht nur die Klimakrise, sondern auch Corona als himmlische Plage erleben. Selbst die Rede von der zweiten oder dritten Welle erinnerte Menschen an die biblische Sintflut und führte häufig zu Läuterungsbekundungen. Viele sagten, sie wollten etwas ändern, damit nach der Krise nicht vor der Krise sei. Sie wollen Sinnhaftes bewirken, wobei viele das Handeln an die Industrie delegieren, die stellvertretend für alle etwas bewegen soll.

WIR BRAUCHEN VISIONEN

Zu Corona kommen Klimakrise und digitale Disruption. Wo sehen Sie die Ressourcen, diesem Wandel zu begegnen – mental wie ganz pragmatisch?

Psychologisch betrachtet, braucht Wandel oft einen Leidensdruck und eine Krisenerfahrung. In meinem jüngsten Buch „Wie tickt Deutschland?“ habe ich eher eine Wandlungsscheu der Gesellschaft ausgemacht. Das lag daran, dass der Leidensdruck fehlte. Vor Corona hatte man das Gefühl, Deutschland sei eines der letzten Paradiese, eine Art Auenland, wo alles noch halbwegs funktionierte: das Gesundheitssystem, die Rente, die Wirtschaft, dazu kam eine geringe Arbeitslosigkeit. Das führte aber dazu, dass man gar nicht in einer Zukunftsgestimmtheit war. Alles, was den Auenlandhorizont überschritt, wurde als Grauenland erlebt. Als Einbruch des Unwünschbaren. Nun haben wir erlebt, wie das Grauenland in das Auenland einbrach, zugleich aber auch die Erfahrung gemacht, dass wir etwas verändern können: Arbeitsprozesse wurden verändert, der Alltag auf den Kopf gestellt – das gibt Menschen wieder eine Art Wandlungszuversicht. Man kann etwa ändern.

Welche Rolle nehmen Gestalter*innen bei diesem Wandel ein? Sind sie Schrittmacher, Visionäre – oder doch „nur“ Akteure unter vielen?

Sie übernehmen eine wichtige Funktion. An Visionen mangelt es ja. Lange Zeit gab es, gerade in Deutschland, eine Visionsskepsis. Denken Sie an das berühmte Schmidt-Zitat. Visionen stehen noch immer unter Krankheitsverdacht. Aber Gesellschaft braucht Visionen, Bilder, Ziele. Nur die Verwaltung des Status-quo ist zu wenig, daher ist das eine ganz wichtige gesellschaftliche Aufgabe, das Leben anders zu denken.

Das „anders denken“ ist die Spezialdisziplin von Architekt*innen und Stadtplaner*innen. Worauf kommt es dabei an?

Visionen dürfen nie abgekoppelt vom Alltag sein. Architekt*innen haben die Chance, Bilder vom Zusammenleben zu liefern und von Innenstädten, selbst wenn die geschäftliche Basis wegbrechen sollte.

Wo entstehen neue Begegnungsräume aus Leerstellen?

Brachen bieten Chancen. Reale Gestaltungsräume auch vor dem Hintergrund, dass vor allem der Online-Handel der Krisengewinner war. Die Menschen werden viel Zeit in digitalen Räumen verbringen. Umso stärker wächst die Sehnsucht nach analoger Kompensation, und da wären wir wieder bei öffentlichen Räumen.

COMEBACK DER ANALOGEN STADT

Lebendige Innenstädte als Gegengewicht zum Digitalen? Sehen Sie eine Renaissance nach all den Video-Konferenzen und Online-Bestellungen?

Corona ist Entwicklungsbeschleuniger und zugleich Problemverstärker. Was die Innenstädte angeht, haben wir zwei Bewegungen: Der Leerstand steigt, weil Handel ins Internet abwandert, auch viele Büroflächen werden nicht mehr gebraucht. Die Frage ist, wie man Büro- und Gewerbeflächen in Zukunft umwidmet …

Wie also wird die gewandelte analoge Stadt der nächsten Jahre aussehen?

Es wird neue Mobilitätskonzepte geben und wir werden die Innenstadt nicht mehr als Parkfläche sehen, sondern – fast wie im Mittelalter – das Zentrum als Begegnungsraum erleben, wo Menschen flanieren, sich austauschen und wo Happenings stattfinden. Wir stellen bei unseren Studien fest, dass reales Einkaufen längst die analoge Alternative zu Tinder ist, inmitten einer jungen, dynamischen Atmosphäre. Da sieht jede(r) sofort, was der Mensch, der einen interessiert, konsumiert. Das gibt ganz andere Möglichkeiten, auszutesten, ob sie oder er passen könnte. Man kann sogar ins Gespräch kommen, und selbst der Geruchssinn spielt eine Rolle – das merkt man nur vor Ort.

Ihnen ist also vor der Transformation der Stadt nicht bange?

Nein, für einen Psychologen sind das spannende Zeiten.

Der ausgebildete Psychotherapeut Stephan Grünewald, Gründer des Rheingold Instituts in Köln, schrieb die Bestseller „Deutschland auf der Couch“, „Köln auf der Couch“ oder „Wie tickt Deutschland?“.