Das Land holt auf

Dr. Reimar Molitor, geschäftsführender Vorstand Region Köln/Bonn e.V., über Chancen und Risiken neuer Wanderungsbewegungen.

Einer brandaktuellen Umfrage des Digitalverbands Bitkom zufolge, denkt jeder Fünfte über einen Umzug aufs Land nach, sollte er dauerhaft im Homeoffice arbeiten. Als Hauptgründe nannten die Befragten das Wohnen im Grünen und geringere Mietaufwendungen.
Für einen Geographen ist das nichts Ungewöhnliches: Nach Stadtflucht kommt Landflucht und danach wieder Stadtflucht. Die Frage ist nur: In welchen Zeiträumen passiert das jeweils? Was sind die Treiber, die Zugfaktoren dafür? Was drückt, was zieht, wer steckt dahinter – und worin liegt die Bewegung begründet? Warum entscheidet sich wer für welchen Standort? Müssen Stadt und Land immer ein voneinander getrennt diskutiertes Gegensatzpaar bleiben? Kann man die beiden Räume nicht in Balance zueinander diskutieren? Als sich ergänzende Räume?

Wie sieht das für die Region Köln/Bonn aus?

Wir hatten bei uns in der Region Köln/Bonn (www.region-koeln-bonn.de) schon vor Corona den Eindruck, dass der dauerhaft überhitzte Immobilienmarkt und die im Sinne des Wortes „asozialen“ Mietpreise auf der Rheinschiene grundsätzlich einen stärkeren Fokus auf die Zonen zehn bis 50 Kilometer westlich und östlich der Rheinschiene, rund um Köln und Bonn, gelenkt haben. Dieser Nachfragedruck läuft vor allen Dingen auch auf die Immobilien-Bestände zu, weil die Flächenausweisung entweder an ihr „natürliches Ende“ (also Gewässer-, Natur- und Landschaftsschutz) gelangt sind, oder eben planerische Ausweisungen und Neubau nicht so schnell mithalten können. In diesen Zonen sehen wir schon eine geraume Weile eine erhöhte Nachfrage nach Immobilien für Wohnstandortentscheidungen, vor allem zur Eigentumsbildung. Dies betrifft insbesondere junge Leute zwischen 25 und Ende 40, die es „aufs Land“ zieht. Obwohl wir lieber vom eher ländlich geprägten Raum sprechen.

Stichwort: Wellen. Dieser länglich geprägte Raum hat doch …

… ab Anfang der 60erJahre bereits mehrere Wellen der Stadtflucht erlebt: zunächst direkt am Rand der großen Städte im Windschatten des Wirtschaftswunders, dann in den 70er Jahren im Kontext der verstärkten Automobilisierung der Gesellschaft und ab Mitte der 80er Jahre aufwärts geprägt durch das Ideal der schnellen Erreichbarkeit der „großen Stadt“ bei gleichzeitigem überschaubaren Leben im Grünen – alle Phasen verbunden mit massiver Landnahme und mit Zersiedlung.

Folgen des Flächenfraßes

Zersiedelung ist überall ein Thema. Eine aktuelle Zahl aus Bayern: Dort verschwinden 10,8 Hektar (ha) pro Tag (Stand 2019). Das entspricht in etwa 15 Fußballfeldern.

Das ging und geht vielerorts einher mit einem Verlust von eher ländlich geprägter Identität und nicht selten mit einem Gegeneinander von Zugezogenen versus Einheimischen. Ein spannendes aktuelles Phänomen ist übrigens, dass genau jene seinerzeit Zugezogenen nun vielerorts die Speerspitze von Bürgerinitiativen sind, die eine weitere Zuwanderung von Menschen aus der Rheinschiene ins Umland verhindern wollen.

Alles wandelt sich. Und aktuell?

Obendrauf und weiterhin kommt Corona. Das Virus wirkt in der Tat wie eine Art Vorspultaste dieser ohnehin schon laufenden Entwicklungen: die Homeoffice-Möglichkeiten für die nicht produktions- beziehungsweise fertigungsrelevanten Arbeitsplätze halten viele Menschen mit ihrer Arbeit digital vor Ort fest. Also paart sich eine generelle Zunahme an neu zuziehender Bevölkerung mit der höheren Verweilquote jener, die schon da sind.
Zwischenstand: die sogenannte Tagbevölkerung nimmt in diesen Zonen absolut zu und damit steigen auch wieder (Immobilien-)Nachfrage und Bedarfe in diesen Zonen. Und dies auch in jenen Räumen, die vor noch wenigen Jahren eher totgesagt wurden. Das heißt zwar nicht, dass jeder Tante-Emma-Laden wieder aufmacht und jede Daseinsvorsorgeeinrichtung wieder nachgefragt wird, aber das heißt, dass diese Räume sich ein Stück weit vor Ort stabilisieren.

Das ist doch eine positive Entwicklung, wenn ländliche Regionen wieder Vielfalt anbieten …

… Durchaus. Lange Zeit hatten die Flügelräume der Rheinschiene eher eine nachgelagerte Ergänzungsfunktion was die Themen Wohnen und Erholen angeht. Das ändert sich gerade. Um es zu überzeichnen: Was früher dem einen sein Ferienhäuschen oder sein Wohnwagen an der Talsperre oder an einem der vielen Flüsschen, ist morgen das Mikroappartement zur temporären Nutzung unter der Woche down-town.  Wo bis Anfang letzten Jahres – vor Corona – überfüllte Zubringerachsen mit Auto, Bus und Bahn auf dem Weg in die Rheinschiene vorherrschten, wird heute morgens halt eine Stunde länger geschlafen, dann das Laptop aufgeklappt und eben Video-Schalten absolviert. Die so eingesparte Pendlerfahrzeit, die sich nicht selten auf zwischen 10 bis 20 Stunden die Woche beläuft, wird in Kinderbetreuung, Einkauf, Sport und „gutes Leben“ investiert.

In Regionen denken

Das Verhältnis zwischen den Metropolen und Peripherien ist zumeist spannungsgeladen und auch mit Vorurteilen behaftet. Die einen fürchten die Dominanz, den anderen grausen die Pendlerströme und verstopften Verkehrswege. In vielen Stadt-Land-Räumen scheint die Entwicklung festgefroren. Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen den Städten und Regionen aus? Gibt es Strategien, Konzepte und Beispiele für die Zusammenarbeit, die das Leben in den Zwischenräumen, Übergängen und in den Regionen deutlich verbessern?

Wir hatten schon seit 2015 in der Region Köln/Bonn mit dem sogenannten Agglomerationskonzept und der Klimawandelvorsorgestrategie das Entwicklungsbild einer „Region in Balance“ verfolgt, um die Region langfristig bis 2040 in eine räumlich ausgewogene, eben balancierte Entwicklung zu „schubsen“. Es gilt dabei vor allen Dingen, die weitere Zersiedlung des Raumes zu bremsen oder besser noch zu beenden. Daher die konsequente Ausrichtung der Siedlungsstruktur auf eine transportorientierte Entwicklung entlang der Hauptachsen im ÖPNV, aber auch im Individualverkehr. Wir hatten schon vor Corona gefühlt zweimal am Tag einen Verkehrsinfarkt, auf den Zulieferachsen. Und wir befördern eine neue Wertschätzung für alle Immobilienbestände.

Kommt nach der Land- nun die Stadtflucht? Könnten die ländlichen Räume einen solchen Wechsel überhaupt verkraften?

Die Frage lautet hier eigentlich: Wieviel Urbanes bringt eine neue Generation von Menschen mit? Braucht sie das Städtische auf dem Land? Und will sie das überhaupt, wenn doch die „große Stadt“ weiterhin in Reichweite ist? Sucht sie also wirklich nach „dem Urbanen“ auf dem Land?

Also geht es neben Fakten auch um individuelle oder kollektive Leitbilder und Vorstellungen? Was wollen die „Menschen“?

Unser Eindruck ist aktuell: Es muss nicht das nächste Einfamilienhaus und nicht die nächste Doppelhaushälfte sein. Im Umkehrschluss ist nicht jeder neue Dreigeschosser der nächste ausgelagerte Drogenumschlagplatz. Da existieren leider vice versa weiterhin viele Stereotypen in der Politik und im Markt. Und es fehlt definitiv an gebauten Vorbildern. Ob sie dann „tiny houses“ heißen, oder Lofts in einer ehemaligen Industriehalle (auf dem Land) sind, Neubau oder Konversion: Man muss diese „neuen Vorbilder“ jetzt einfach mal zulassen und bauen.

Zusammen anpacken

Coworking, gemeinschaftliches Wohnen über Baugruppen oder Baugenossenschaften klingen nach Stadt. Den ländlichen Raum bringt man nach wie vor mit dem Traum vom Eigenheim in Verbindung. Und zeichnet damit das Bild endlos zersiedelter Landschaften. Ist das ein Thema für Top-Architekten, Stadt- und Raumplaner? Oder für Hochschulen und junge Leute, die neues Leben und Denken in ländliche Räume tragen wollen?

Umgebaute Bauernhöfe, auch kleinere Industrieareale, Coworking im ehemaligen Kuhstall oder die Nachnutzung ehemaliger Freizeitinfrastrukturen zeigen: Es geht darum, dass die Leute das „gute Leben vor Ort“ baulich und organisatorisch vermehrt wieder selbst in die Hand nehmen. Organisatorisch erleben wir derzeit gerade im Rahmen der Pandemie eine Zunahme an genossenschaftlichem Handeln, es entstehen neue Allianzen vor Ort – und genau da besteht auch die Möglichkeit, dass wir nicht mehr die klassische Trennung zwischen den Zugezogenen und den Ortsansässigen haben. Hier haben in Zukunft beide Gruppen ein Interesse daran, ihren Raum dauerhaft zu stärken. Dazu gilt es dann aber, einen Teil seiner Lebenszeit (etwa jene die man gewinnt, weil man nicht mehr so oft und viel pendeln muss …), in gemeinschaftliche Ansätze beziehungsweise Gemeinschaftsarbeit zu investieren. Diese neuen gesellschaftlichen Allianzen zeigen sich jetzt aktuell vor Ort vermehrt und gehen dabei weit über Dorfläden oder Ähnliches hinaus:
Energieversorgungsgemeinschaften, Kneipen, Buchläden, Ärztehäuser, Pflegeeinrichtungen …

Gerne wird im baukulturellen Kontext von regionaler Architektur als Basis lokaler Identität gesprochen. Wie sieht es damit in der Realität aus – eine Chimäre? Welche Modelle für das ländliche Bauen lassen sich anführen? Und welche Rolle spielt das Thema der baulichen Verdichtung in den regionalen Räumen – auch, um den spürbaren Flächenfraß dort zu begrenzen?

Gerade die Bestände bieten tolle Chancen. Wir forcieren derzeit im Rahmen der REGIONALE 2025 im rechtsrheinischen Raum das Thema der Transformation und der Konversion. Hier gilt es, konkret in die Bestände „hineinzukriechen“ und innovative Nach- und Umnutzungen in allen Maßstäben zu fördern, mit dem entsprechenden Investitionsbedarf, vor allem in der Mitte der existierenden Siedlungen und eben nicht an den Rändern. Wenn man das noch paart mit regionaler Baukultur und der Verwendung regionaler Ressourcen im Sinne von Baustoffen, dann könnte daraus noch mal eine neue Identität für diesen Raum erwachsen.

Der ländliche Raum spielt ja für die Bewältigung der Klimakrise eine erhebliche Rolle. Besteht durch eine wie auch immer geartete Stadt-Land-Bewegung nicht die Gefahr einer Verstädterung des (idealisierten) ländlichen Raumes? Wie ließe sich diese Entwicklung konzeptionell begleiten und positiv beeinflussen?

Diese Räume leisten bereits jetzt sehr viel, im klassischen Sinne als Bereitsteller von landwirtschaftlichen Produkten, Wasser, Holz, Energie (Biomasse), aber auch als Entsorgungsräume. Bis dato wurden sie aber eher als Ergänzungsräume der Großstädte wahrgenommen, eben nicht auf Augenhöhe mit der dicht besiedelten Rheinschiene. Aber man muss auch heute in Köln gelegentlich noch daran erinnern, dass die Römer nicht nur wegen der Lage am Rhein gekommen sind und auch nicht wegen des Doms…, sondern wegen des Wassers aus der Eifel und der Bodenqualitäten der Börde.
Die großen Städte sind zunehmend auf Fläche angewiesen, um ihre Klimaziele zu erreichen. Das geht eben nur in der Fläche, in der Region und mit der Region, die in der Tat in der Lage ist, auch heute wieder regionale Stoffkreisläufe im großen Maßstab bereitzuhalten. Wir müssen daher gerade jetzt aufpassen, dass die eher ländlich geprägten Räume nicht durch eine „doppelte Stadtflucht“ übernutzt werden: zum einen durch den Zuzug von städtischer Bevölkerung und zusätzlich durch eine Welle von flächenbezogenen Funktionszuweisungen im Kontext des Klimawandels, die in der Stadt selbst räumlich nicht realisiert werden können.

Dr. Reimar Molitor ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Region Köln/Bonn e.V. Der Region Köln/Bonn e.V. verfolgt das Ziel, die regionale Zusammenarbeit zu organisieren und gemeinschaftlich eine strategische Ausrichtung der Region Köln/Bonn zu erreichen. Reimar Molitor ist in zahlreichen Beiräten, strukturpolitischen Vereinigungen und Ausschüssen im Themenbereich der Stadt- und Regionalentwicklung vertreten, so zum Beispiel im Expertenrat zur Zukunft der Internationalen Bauausstellung (IBA) des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat und im Arbeitskreis „Zukunft der Planung“ der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL).