Teil 4

QUO VADIS CITY?
Impulse für die Zukunft unserer InnenStädte.

Unsere Cities stecken in der Krise. Viele InnenStädte leiden unter Leerstand, Ödnis und Langeweile, drohen im Verkehr zu ersticken. 72% der Bürger:innen wünschen sich eine Veränderung der InnenStädte (Quelle: GfK). Welche Ansprüche hat die Gesellschaft an eine lebenswerte InnenStadt und welche Alternativen gibt es zum Status quo?

Krise bedeutet immer auch Chance. Chance, unsere InnenStädte neu zu erfinden, wieder zu beleben, spannend zu gestalten, vielfältig zu nutzen.

Das KAP Forum möchte zum Jahresbeginn 2024 zum Weiterdenken der City anregen und fragt Stadtplaner, Architekten, Investoren, ImmobilienWirtschaft, Wissenschaftler, Unternehmer und engagierte Bürger:

1. Worin liegt der Niedergang unserer InnenStädte begründet?

2. Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht die City für die Städte und Bürger:innen? Brauchen wir die City noch als zentralen Ort in der Stadt – oder hat sie sich überlebt?

3. Wie sieht die InnenStadt von morgen aus? Wie können die InnenStädte revitalisiert werden und wieder an Bedeutung gewinnen. Welche InnenStädte können aus Ihrer Sicht beispielhaft für die notwendige Transformation stehen?

Brigitte Scholz
Leitung Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln
Foto: © Maurice Cox, DGPh

Worin liegt der Niedergang unserer InnenStädte begründet?

Die Innenstädte sind das Herz unserer Kommunen, und wir sind in den letzten Jahren eher lieblos damit umgegangen. Der klassische Markplatz mit Rathaus als zentralem Anlaufpunkt für alle Bürger*innen wurde mehr und mehr zur monofunktionalen Shoppinglandschaft umfirmiert. Schaufenster und Konsum waren die Hauptattraktoren zum Besuch in der City. Während tagsüber das Leben brodelte blieben in den Innenstädten abends verödete Großstrukturen zurück. Die Funktionstrennung der 1970er Jahre brachte großzügige Fußgängerzonen aber übersah, dass Flanieren ein urbanes Umfeld braucht.

Monostrukturen sind anfällig für Veränderungen, also das Gegenteil von resilient. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass ein verändertes Einkaufsverhalten sich direkt auf die City auswirkt. Das Einkaufserleben der großen Warenhäuser finden wir jetzt im Internet, der online-Handel ist in seiner Auswahl unschlagbar und komfortabel. Eine Bedrohung für die City ist Leerstand mit Downgrading-Effekten in der Frequenz der Besucher*innen ebenso wie beim dem Warenangebot. Der Angebotsmix und die Qualität der Angebote sind entscheidende Pull-Faktoren für den Besuch. In der City suchen wir heute das Leben und das Erlebnis: Feiern, Menschen treffen, Kultur – und natürlich nach wie vor Einkaufen.

Was wäre eine Stadt ohne ihr Herz? Wir brauchen heute die City mehr denn je als pulsierenden Ort, als Ort der Begegnung und Vielfalt. Das kann nur durch eine Mischung der Funktionen erfolgen, wobei der hochwertige Einzelhandel nach wie vor ein starker Magnet sein wird. Gastronomie und Dienstleistungen nehmen zu, und auch Freizeitnutzungen erobern die City. Es entsteht ein Mosaik aus unterschiedlichen Besuchsanlässen mit dem Ziel, rund um die Uhr Leben in der City zu haben. Dazu gehört auch das Thema Bildung mit Bibliotheken oder Hochschulen Wohnnutzungen in der City brauchen zentrumsfeste Bewohner*innen oder anders ausgedrückt: Wohnen und City kann zu handfesten Konflikten führen. Deshalb halte ich eine Zonierung in laute und ruhigere Bereich für sinnvoll, um die City auch für Wohnen alltagstauglich zu machen. Dabei können gewerbliche Nutzungen helfen, die über das klassische Büro hin Kreativ- oder Startup-Cluster anbieten. Hilfreich sind unterschiedliche Lagen, die ein differenziertes Preisangebot ermöglichen.

Und ein Wort zum Thema Rathaus und Innenstadt: Die Rathäuser heute sollten lebendige Orte der Demokratie statt graue Räume der Bürokratie sein. Hier werden die zentralen Entscheidungen für die Zukunft unserer Städte getroffen, Diskussionen geführt und unterschiedliche Standpunkte fair ausgetauscht. Die City ist für mich auch immer ein Ort der Politik, der öffentlichen Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung

Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht die City für die Städte und Bürger:innen?

Wie sieht die Innenstadt von morgen aus? Wie können die Innenstädte revitalisiert werden und wieder an Bedeutung gewinnen? Welche Innenstädte können aus Ihrer Sicht beispielhaft für die notwendige Transformation stehen?

Die Monofunktionalität wird in der Kölner City bereits durch Interimsstandorte von Stadtbibliothek und Stadtmuseum aufgebrochen. Dazwischen (welt-) bekannte Museen wie das Kolumba und Wallraf-Richartz-Museum und ruhige Kirchenorte wie das Antonniterquartier. Die Läden werden zu Showrooms, und in den Obergeschossen sorgen Boulderhallen, Büroräume oder Hotels für Belebung. Zahlreiche Umbaukonzepte liegen zur Genehmigung vor, da der Gebäudestand aus den 1950er Jahren nun in die nächste Sanierungs- und Umbauwelle geht. Für die großen Bausteine werden Mix-used-Konzepte vorbereitet und in den nächsten Jahren umgesetzt.

Der öffentliche Raum gewinnt als Begegnungsraum an Bedeutung und braucht eine gute Gestaltung. Während wir zur Jahrtausendwende noch die steinerne Stadt predigten ist es jetzt das Grün, das Einzug halten und für mehr Aufenthaltsqualität sorgen soll. Dafür gewinnt der Baugrund an Bedeutung: intelligente Bündelung von Leitungen und Wasserspeicherung in Zisternen ermöglicht es, Platz für Pflanzgruben zu schaffen und das lebenswichtige Wasser zu speichern. Eine neue Rolle sollen begrünte Hausfassaden und Dächer spielen, die auch in beengten Lagen für eine angenehme Aufenthaltsqualität sorgen können.

Die Konflikte um Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit verschärfen sich in der City und es bedarf auch hier Managementstrukturen, um die Herausforderungen aktiv anzupacken. Die City der Zukunft braucht soziale Orte als Anlaufstellen. Ein Potenzial dafür bieten die Kirchen in ihrer caritativen Funktion oder mit ihren transformierten Bauten. Darüber hinaus erprobt Köln im Domumfeld einen Masterplan Sauberkeit mit unterstützenden Strukturen und ordnungsrechtlichen Regelungen.

In Köln bietet das City-Netzwerk-Management eine Umsetzungsstruktur für die Leitideen der Handelslagen. Unterschiedliche Profile sollen vom luxuriösen Wallrafplatz am Dom über die Hohe Straße als Startup-Schaufenster bis zum grünen Boulevard Schildergasse entwickelt werden. Stadtverwaltung und Wirtschaftsförderung Köln Business arbeiten Hand in Hand, um Projekte anzuschieben, zentrale Themen zu beleuchten und ein Netzwerk zwischen den Akteuren zu knüpfen. Möglich ist diese Aktivierung durch das Bundesprogramm Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen. Mehr Infos Citymanagement | KölnBusiness (koeln.business)

Brigitte Scholz leitet seit 2017 das Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln und verantwortet das Einzelhandels- und Zentrenkonzept, Integrierte Stadtentwicklungskonzepte, strategische, sektorale und räumliche Planungen sowie die Kommunalstatistik. Davor war Sie als Professorin an der Alanus-Hochschule und der BTU Cottbus tätig, Geschäftsführerin im bio innovation park und zehn Jahre lang Leiterin Projekte bei der Internationalen Bauaustellung (IBA) Fürst-Pückler-Land.

Daniel Häni
Unternehmer, Mitbegründer des Basler Kultur- und Kaffeehauses »unternehmen mitte«
Foto: © Pino Covino

Was geschieht mit unseren Innenstädten? Welche Prinzipien und Mechanismen bestimmen die Gestaltung? Wie sind die Besitzverhältnisse? Wer bestimmt? Vieles liegt im Argen. Wir sehen immer mehr Leerstände und Rechnungen, die nicht mehr aufgehen. Mitten in Basel gibt es ein Pilotprojekt, das zeigt, wie eine lebendige Innenstadt gelingen kann. Das Unternehmen Mitte – Kaffeehaus und Kulturimpuls. Wir sprachen mit Daniel Häni, einem der Gründer und Mitunternehmer dieses öffentlichen Wohnzimmers in einer ehemaligen Bank.

Wie sehen Sie die Problematik der Innenstädte?

Besorgt und zuversichtlich zugleich. Sorgen macht mir der grassierende Leerstand, die kommerzielle Einöde im Bereich der Erdgeschosse. Immer mehr Läden schließen und Spekulationsleichen liegen brach. Es gibt immer mehr ungeeignete Eigentümer: Immobilienfonds, Versicherungen, Pensionskassen etc. Sie sind nicht mehr in der Lage, soziale Verantwortung zu übernehmen. Die grauen, gesichtslosen Männer von «Momo» haben das Ruder übernommen. Sie handeln profitorientiert und sind Vasallen der Aktionäre. Der Grundsatz, dass Eigentum verpflichtet, ist ihnen fremd. Die Stakeholder werden ausgeblendet.

Wir erleben immer häufiger, dass staatliche Stellen nur noch weisungsgebunden handeln und den menschlichen Spielraum verloren haben. Der Sinn für und das Interesse an kreativen Ansätzen und Lösungen ist bei den Behörden immer mehr vom Aussterben bedroht.

Ich bin zuversichtlich, weil ich weiß, dass wir «nur» anders denken und handeln müssen. Wir können das Leben in die Herzen unserer Städte zurückholen. Wir können aus dem Verfall einen Nährboden machen.

Als ich vor 35 Jahren nach Basel kam, habe ich aus Mangel an Kulturräumen Häuser besetzt. Dann habe ich gemerkt, dass es effizienter ist, direkt mit den Eigentümern in Kontakt zu treten und Zwischennutzungsverträge abzuschließen. Daraus entstand die Kulturraum-Bewegung. Vor 25 Jahren konnten wir eines der zentralen Gebäude in Basel, die ehemalige Schweizerische Volksbank, kaufen und erfolgreich umbauen. Entscheidend dafür war, dass wir Eigentum neu gedacht und praktiziert haben.

Wie ist es Ihnen gelungen, mitten in der Stadt ein offenes Haus zu schaffen?
Wie wurden die Eigentumsverhältnisse geregelt?

Wir haben die Stiftung Edith Maryon als Eigentümerin gewonnen. Sie hat die Kompetenz, Grund und Boden sowie Gebäude uneigennützig zu besitzen. Sie garantiert auch, dass diese nie wieder spekulativ verkauft werden.

Für den Betrieb als Kaffeehaus und Kulturimpuls haben wir eine Purpose GmbH gegründet. Diese neue Rechtsform macht inzwischen auch in Deutschland und anderen Ländern Schule.
Siehe: https://www.mitte.ch/kulturimpuls/purpose/
Und hier: https://purpose-economy.org/de/

Wir brauchen eine Entkommerzialisierung der Erdgeschosszone! Das Erdgeschoss muss von den Begehrlichkeiten der Profitmaximierer befreit werden. An die Stelle von Handelsflächen müssen Lebensräume für Menschen treten. Im „Unternehmen Mitte“ machen wir genau das seit 25 Jahren.

Wie sieht Ihre Vision für lebendige Innenstädte aus?
Wie geht das konkret?

Das Eigentum am Unternehmen muss bei denen liegen, die praktisch die Verantwortung tragen. Und diese dürfen den Gewinn der Unternehmen nicht privatisieren. Das Saatgut darf nicht aufgegessen werden. Das sind die beiden Prinzipien von Purpose.

Wir haben die Vision eines urbanen Wohnzimmers konkret und in vielen kleinen Schritten verwirklicht. Wir haben uns nie entmutigen lassen. Das Unternehmen Mitte ist in diesem Sinne nichts Fertiges. Und es gibt bei uns keinen Konsumzwang.

Ich halte es für eine Unsitte, Gäste zum Konsum anzuhalten. Zwang schadet der Verantwortung. Freiheit schafft Verantwortung. Nachhaltig. Viele Menschen glauben, dass sich Konsumfreiheit nicht auszahlt. Das stimmt nicht. Im Gegenteil. Wir haben über die Jahre viele Nachbarn kommen und gehen sehen. Nicht wenige wegen Konkurs. Nur große Konzerne halten sich meist länger. Zum Beispiel Hugo Boss. Er konnte es sich leisten, ein paar Jahre lang einen unrentablen Laden bei uns gegenüber zu betreiben. Aber der Laden war nicht offen für die Leute. Irgendwann ist er gegangen. Jetzt gibt es dort einen Bioladen. Das belebt und freut uns. Wir halten zusammen.

Ohne Konsumzwang, wie soll das gehen?
Würde Ihr Betrieb auch ohne Kaffee und Kuchen funktionieren?

Die Gäste müssten das woanders kaufen, wahrscheinlich in schlechterer Qualität. Wir produzieren zu 100 Prozent in Bio-Qualität. Der Unterschied ist, ob man konsumieren muss oder kann. Wer nicht muss, der kann!

Unser jetziges Haus war früher eine Bank, vergitterte Fenster, Panzerglas und ein großer Tresorraum. Heute gehen täglich 1.500 Menschen ein und aus. Mehrere tausend Veranstaltungen haben bereits stattgefunden. Es gibt zum Beispiel einen Kindertag. Jeden Mittwoch. Mütter und Väter können entspannt Kaffee trinken, während die Kinder in der Mitte spielen. Ohne Animation. Es gibt nur ein paar Matten, Kissen und einen Kletterbogen von Emmi Pikler. Inzwischen haben wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich erinnern, als kleine Kinder hier gespielt zu haben.

Hoffentlich ziehen H&M und ähnliche Firmen bald aus der Innenstadt weg. Dann können wir dort einen Waldorfkindergarten ansiedeln. Die Geschäfte sowieso. Sie sind nicht die Zukunft. Wir brauchen konsumfreie Treffpunkte und Offline-Zonen. Zweckfreie Räume! In den Schaufenstern sollen die Menschen sitzen, reden, spielen. Kaufen sie noch oder leben sie schon? Der Satz könnte von Ariadne von Schirach stammen, die dieser Tage zum politischen Gespräch im Unternehmen Mitte war. Wir müssen weg vom Funktionieren und hin zum Leben.
Siehe: https://www.mitte.ch/kulturimpuls/um-politics-talks/

Wie gelingt Transformation?
Was raten Sie Menschen, die Ihre Vision teilen wollen?

Schärfen Sie Ihren Sinn für die Menschen und für das, was Sie wirklich brauchen. Installieren Sie Wahrnehmungsorgane für das wirkliche Leben. Pflegen Sie ein gesundes Selbstbewusstsein und kultivieren Sie die Unbestechlichkeit im eigenen Empfinden.

Gesellschaftspolitisch braucht es mehr Souveränität bei den Bürger:innen. Der Architekt Jacques Herzog hat es in einem Interview mit der NZZ auf den Punkt gebracht: «Städte werden von Menschen für Menschen gemacht. Gesetze und Verordnungen auch. Wir können also entscheiden und uns engagieren. Wir können selbst Orte wie das «Unternehmen Mitte» mitgestalten.»

Weiter plädiert er dafür, die Rahmenbedingungen für unternehmerische Initiativen attraktiv zu gestalten. Der Staat solle nur Ermöglicher, nicht Gestalter und Verwalter sein.

Die Menschen brauchen Aufmerksamkeit. Das ist die neue Währung. Aber Menschen wollen als Menschen wahrgenommen werden und nicht lediglich als Konsument:innen. Sie wollen kein Mittel zum Zweck sein. Sie brauchen Wertschätzung und echtes Interesse. Menschen wollen berührt werden. Wer nicht berührt wird, stumpft ab. Das ist ein öffentliches Geheimnis.

Was brauchen Menschen Ihrer Meinung nach?

Angaben zum «UM Unternehmen Mitte»:
– Kaffeehaus und Kulturimpuls
– seit 1999
– Hauseigentümerin: Stiftung Edith Maryon
– Gebäude der ehemaligen Schweizerischen Volksbank, Baujahr 1912
– Nutzungsfläche 4000 qm
– Mitarbeiter:innen: 80
– Umsatz pro Jahr: 5.5 Mio CHF
– Gäste pro Tag: ca. 1500

Daniel Häni, 1966 in Bern geboren, ist Unternehmer, Mitbegründer des Basler Kultur- und Kaffeehauses «unternehmen mitte» sowie Mitinitiator der Schweizer Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen». Sie kam 2016 zur Abstimmung und löste ein weltweites Medienecho aus.

Der Vater von vier Kindern ist Mitbegründer der «Stiftung Kulturimpuls», der «Purpose Stiftung» für Verantwortungseigentum, Stiftungsrat des «Stiftung Revivis», Verwaltungsrat der Pneumatit AG und Mitarbeiter beim Think Tank «First World Development» und dem «Public Secrets Ensemble».

Andrea Fuchs
Architektin, Baukultur-Netzwerkerin, seit 2022 Stadtbaumeisterin in Tettnang
Foto: © Lisa Holl

 

(Innen-)Städte verändern sich – den Wandel als Chance sehen und dabei auf Baukultur und Nachhaltigkeit setzen!

Der Wandel in den Innenstädten infolge des veränderten Konsumverhaltens und der Verlagerung der Büroarbeitsplätze ins Homeoffice ist in großen wie in kleinen Städten zu beobachten. Dies führt zu Leerstand, Verlust der urbanen Attraktivität und vielerorts zum Donut-Effekt, indem sich immer mehr Flächen und Nutzungen an den Ortrand verlagern.  
Doch gleichzeitig bieten sich Chancen für eine Transformation zu vielfältigen, grünen, lebendigen und klimaresilienten Orten. Diese Chance, unsere Innenstädte an die geänderten Bedürfnisse der Gesellschaft sowie des Klimawandels anzupassen, sollten wir nutzen.

Wie der Wandel gelingt? Indem wir unsere Cities sorgsam um- und weiterbauen, den wertvollen Bestand mit Neuem und mehr Grün ergänzen. Meines Erachtens liegt gerade im Erhalt und der Weiterentwicklung unseres lokalen baukulturellen Bestands ein hohes Potential unserer europäischen Stadt. Auch in der Hopfenstadt Tettnang wird das Stadtbild enorm von den drei Schlössern, der historischen Altstadt, den vielen Denkmälern und der erhaltenswerte Bausubstanz geprägt. Bestandsgebäude verleihen unseren Städten Ihre einzigartige Identität. Bestandserhalt und Bauen im Bestand sollten daher unsere oberste Maxime sein. Bislang jedoch sind Studium, Gesetzgebung und Praxis des Bausektors überwiegend auf den Neubau ausgerichtet. Auch in der Immobilienbranche und Projektentwicklung ist die Neubausucht und Bodenspekulation – nicht zuletzt aufgrund größerer Renditen – stark verbreitet. Hier bedarf es eines Umdenkens hin zu einer neuen Umbaukultur wie sie auch die Bundesstiftung Baukultur fordert.

Aus meiner bisherigen Berufspraxis sind Gestaltungsbeiräte hierfür ein probates Mittel, um durch eine möglichst frühzeitige Beratung den Bestand und das Einfügen in den städtebaulichen Kontext in der Phase Null in den Fokus zu rücken, miteinander ins Gespräch zu kommen und gemeinsam mit allen Akteuren nach Lösungen zu suchen. Bestand als wertvolles Gut zu erhalten und sensibel weiterzuentwickeln, anstatt ihn durch gesichtslose Neubauten zu ersetzen, sollte unser aller Ziel sein.

Die Rolle der City hat sich im Laufe der Zeit vom reinen Handelszentrum hin zum vielfältigen, inklusiven Raum, zum lebendigen Treffpunkt für die Stadtgesellschaft verändert. Eine lebendige Innenstadt fungiert als Markenzeichen einer Stadt und steigert die Attraktivität als Wohn-, Wirtschaftsstandort oder Reiseziel. Letztlich geht es darum Erlebnisse zu schaffen, die Innenstadt als attraktiven Ort auch abseits des Konsums umzugestalten. Es braucht Räume mit Qualität, die zum Verweilen einladen und Identität stiften. Aber auch Orte und Treffpunkte für die Gemeinschaft. Tettnang beispielsweise ist eine von 20 Kleinstadtperlen in Baden-Württemberg und wirbt mit seinem Kleinstadt-Charme. Erst in 2022 wurde die Stadt von Kommunal als eine der 30 lebenswertesten Kleinstädte in Deutschland ausgezeichnet. Neben dem baukulturellen Erbe, der guten Infrastruktur und der attraktiven Lage zeichnet sich die Stadt durch viele inhabergeführte Geschäfte, eine starke Vereins- und Brauchtumskultur und ein starkes Gemeinschaftsgefühl aus.

Innenstadt als „Corporate Identity“ begreifen.
Die City von morgen: weniger Konsum, dafür mehr Vielfalt, Grün, Aufenthaltsqualität und Gemeinschaftsorte.

Historisch betrachtet, war die Innenstadt schon immer pluralistisch. Im Stadtzentrum wurde gewohnt, gearbeitet, produziert, gefeiert und gehandelt. Zwischenzeitlich entwickelten sich unsere Cities überwiegend zu reinen Konsumorten, mit all den Verwerfungen, die das mit sich gebracht hat.

Zeit die Stadt von Morgen zu gestalten! Barrierefrei, klimaresilient, mehr mixed-use statt mono-use, mit qualitätsvollen öffentlichen Räumen, grünen und blauen Infrastrukturen sowie einer hohen Biodiversität. Eine große Chance liegt eindeutig in der Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs, der klimaneutralen Transformation des Gebäudebestands, sowie in der Förderung der lokalen Baukultur. Es bedarf aktiver und nachhaltiger Flächen- und Bodenpolitik auf städtischer Seite, um diese Entwicklung zu steuern und innovative Konzepte zu fördern. Strategisches Grundstücksmanagement spielt dabei eine wichtige Rolle. Durch gezielten Grunderwerb können leerstehende Strukturen in den Innenstädten in konsumfreie, mixed-use Quartiere mit Erlebnischarakter umgewandelt werden und somit als Wachstumsmotor für unsere Innenstädte fungieren.

In Tettnang erarbeiten wir aktuell einen städtebaulichen Rahmenplan, um mit einprägsamen Leitbildern eine Gesamtstrategie zu entwickeln, Entwicklungspotentiale aufzuzeigen und klare Ziele zu definieren. Parallel dazu entwickeln wir die Innenstadt im Rahmen der Stadtsanierung und mit Mitteln aus der Städtebauförderung weiter und erstellen ein Mobilitäts- und Klimaschutzkonzept. Auch die Realisierung eines Nahwärmenetzes und Anschluss der kommunalen Liegenschaften sowie des historischen Gebäudebestands in der Innenstadt ist ein wichtiger Schritt in Richtung klimaneutrale Stadt bis 2040, wie es unser klima- und energiepolitisches Leitbild vorsieht.

Wie das in der Praxis gelingt?
Vorbildhafte Transformation: lernen z.B. von Kopenhagen, Schwäbisch Gmünd oder den Bregenzerwald-Gemeinden.

Vorbilder für die Transformation in großen wie kleinen Städten gibt es reichlich. Wie immer lohnt sich der Blick über den eigenen Tellerrand und das Reisen. Bewusst habe ich einen Teil meines Studiums in Dänemark absolviert, denn Kopenhagen inspirierte mich schon immer mit seiner nachhaltigen Stadtentwicklung und Fahrradkultur. Radfahren ist dort Lifestyle und das Rad das beste Verkehrsmittel in der City. Auch in Paris kann seit einigen Jahren beispielhaft die Transformation von Verkehrsräumen hin zu grünen, lebenswerten Aufenthaltsräumen beobachtet werden. Im kleineren regionalen Kontext ist die Stadt Schwäbisch Gmünd ein gelungenes Beispiel, wie durch strategische Stadtentwicklung, innovative städtebauliche Konzepte und dem Instrument einer Landesgartenschau die Stadt positiv weiterentwickelt wurde. Aber auch der Blick in das benachbarte Vorarlberg lohnt, denn dort gelingt gerade in kleineren Gemeinden im Bregenzerwald die Revitalisierung der Ortsmitten durch Baukultur und das Schaffen von wichtigen Gemeinschaftsstrukturen-/orten. Hier zeigt sich beispielhaft, dass Baukultur und Bestandserhalt stark zur Revitalisierung und Attraktivierung beitragen.

Inspiration und gute Beispiele gibt es also. Was es braucht: Mut zur Umsetzung und ganz klar: #lessblabla #moreaction!

Andrea Fuchs absolvierte ihr Architekturstudium an der HCU Hamburg und der Aarhus School of Architecture in Dänemark. Nach vielfältigen internationalen Aufenthalten und ersten beruflichen Erfahrungen im Architekturbüro wechselte sie in den öffentlichen Dienst. Seit 2022 ist sie Stadtbaumeisterin in Tettnang am Bodensee und verantwortet die bauliche Entwicklung der Stadt sowie den Bereich Stadtentwicklung, Klima und Bauen mit über 100 Mitarbeitern. Ihre Tätigkeit konzentriert sich auf die Förderung von Baukultur, den Erhalt des baukulturellen Bestands sowie nachhaltiger Stadtentwicklung und Klimaschutz. Ehrenamtlich engagiert sie sich aktiv als Mitglied im Kompetenzteam Nachhaltigkeit der Architektenkammer Baden-Württemberg (AKBW) und im Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz (DNK). 

Dr. rer. pol. Katja Wolframm
Hamburg Kreativ Gesellschaft mbH
Foto: © Oliver Reetz

Worin liegt der Niedergang unserer InnenStädte begründet?

Mit Blick auf die Hamburger Innenstadt kann von einem Niedergang eher nicht gesprochen werden. Was wir, zum Teil auch sehr unangenehm, erleben, ist ein Veränderungsprozess: Die Hamburger Innenstadt ist geprägt von Großimmobilien, die auf mehreren Etagen vom Einzelhandel genutzt wurden. Wo andernorts über den Ladenflächen gewohnt wird, sind hier oft Büroetagen, Hotels oder Praxen. Die „City“ unterscheidet sich damit deutlich von den Quartieren. Einerseits erscheint sie punktuell zu bestimmten Zeiten fast ausgestorben, andererseits ist hier Platz für vieles, was in den stark verdichteten Quartieren nicht stattfinden kann – vom Sportevent über den Schlagermove, Kundgebungen aber auch Schlafplätze im Schatten der Gebäude.

Der geringe Wohnanteil kann zum Standortvorteil für kreativwirtschaftliche Nutzungen, vor allem aus dem Bereich Musik werden. Zwar empfindet man auch in Hamburg leerstehende Ladenflächen als Herausforderung, doch hat die Stadt hier mit dem Förderprogramm Frei_Fläche: Raum für kreative Zwischennutzung ein Programm aufgesetzt und finanziell ausgestattet, welches ermöglicht, dass Kreative Leerstand im großen Stil mit Inhalt füllen können. Dieses Programm ermöglicht unter anderem mit dem Jupiter die Zwischennutzung eines ehemaligen Kaufhauses. Das sticht deshalb so heraus, weil es die Kaufhäuser sind, die zum Kristallisationspunkt für den Transformationsprozess der Innenstädte werden. Diese erstaunlich emotionalen Orte sind prägend für das Stadtbild, aber auch Sinnbild für die funktionale Ausrichtung der Innenstädte in den letzten Jahrzehnten. Wir blicken zurück auf eine Zeit, in der fast nichts in die Entwicklung dieser Objekte investiert wurde und dennoch enorme Einzelhandelsmieten erzielt werden konnten. Während die Immobilienwirtschaft hier auf die Gewinnoptimierung fokussiert war, wurde eine zukunftsfähige Ausrichtung der Immobilien auf den sinkenden Bedarf an  Einzelhandelsflächen versäumt. Nun, da die ehemaligen Einzelhandelsriesen die Flächen verlassen haben, hinterlassen sie trostlose Lücken, für die es neue Ideen braucht. Zwischennutzungen können hier eine gute Brückenlösung sein und zeigen, welche Möglichkeiten und Nutzungsvielfalt durch ein günstiges Raumangebot entstehen können. Letztendlich ist es Aufgabe der Eigentümer*innen, z.B. bei der Entwicklung von neuen Mixed-used-Konzepten auch ein kostengünstiges Preissegment mit zu berücksichtigen. Die Renditen werden sinken müssen – keine schöne Aussicht, vor allem, da einige dieser Objekte zentraler Bestandteil der Produkte für die private kapitalmarktbasierte Altersversorge sind.

Unbedingt braucht eine Stadtgesellschaft diesen zentralen Ort. Vieles spielt sich in den Wohnquartieren ab, aber zum Großstädtischen gehört auch eine Innenstadt mit einem prägenden Stadtbild als Anziehungspunkt für die Stadtgesellschaft, das Umland und den Tourismus gleichermaßen. So wie zuletzt der Einzelhandel können jetzt andere Nutzungsformen die Innenstadtals Stärke nutzten. Denn hier treffen sich (fast) alle – das ist die große Stärke der zentralen Lage! So erleben wir es in unserem größten Zwischennutzungsprojekt, dem Jupiter im ehemaligen Karstadt Sport-Gebäude an der Mönckebergstraße in der Innenstadt. Hier wird das Nützliche (z.B. die Bahnhofsnähe) mit dem Angenehmen (z.B. einem Kaffee, Schlendern durch Kunstaustellungen, spontaner Besuch eines Tanzkurses) verbunden. Der einstige Konsumtempelwird zum Begegnungsort und gewinnt durch die neue Mischung an Angeboten (konsumierbaren, aber auch kostenlosen) hinzu. Basierend auf der vorherigen Bekanntheit des Ortes gelingt hier eine Offenheit für die gesamte Stadtgesellschaft, wie sie sonst an kulturellen Orten kaum möglich ist.

Während ein leerstehendes Kaufhaus schnell zum Symbol des Niedergangs der Innenstadt und des politischen Versagens werden kann, ist hier zumindest in der Zwischennutzung ein funktionierender dritter Ort entstanden. Für gesellschaftlichen Zusammenhalt sind solche Orte wichtig, denn Misstrauen und Abneigung entstehen bekanntermaßen vor allem aus Unkenntnis und mangelndem Verständnis füreinander. Wo gemeinsame Projekte gestemmt oder auch nur betrachtet werden, kann auch (wieder) Vertrauen ineinander gewonnen werden. Zudem kommt dem Zentralen die Funktion einer Bühne gleich. Was hier passiert, wird gesehen – und das kann Gemeinschaftserlebnisse fördern. Dies trifft insofern auch auf Experimente zu, die einer Innenstadt ein neues Gesicht verschaffen können.

Welche Bedeutung hat aus Deiner Sicht die City für die Städte und Bürger:innen? Brauchen wir die City noch als zentralen Ort in der Stadt – oder hat sie sich überlebt?

Wie sieht die InnenStadt von morgen aus? Wie können die InnenStädte revitalisiert werden und wieder an Bedeutung gewinnen?

Wir brauchen ein zeitgemäßes Stadtbild – das schließt alle Dimensionen der Nachhaltigkeit mit ein und stellt hohe Qualitätsanforderungen an die Architektur. Hamburg konnte sich immer gut baulich erneuern und jetzt ist entscheidend, ob hier auch klimagerecht und einladend mit den Bestandsgebäuden umgegangen werden kann. Die Aufenthaltsqualität wird in hohem Maße vom öffentlichen Raum, den Gebäudefassaden und deren gestalterischer Anpassung an die Klimafolgen abhängen. Innenstädte waren schon oft Vorbild und Inspirationsquelle. So haben Einkaufszentren in der Vergangenheit vielfach versucht, Innenstädte nachzuahmen. Das sollte im aktuellen Transformationsprozess Ansporn aller gestaltenden Akteure sein: die City ein Vorbild in Sachen Stadtplanung, Architektur, Design und Nutzungsvielfalt. Die Kreativwirtschaft hat hier viel zu bieten, denn vor allem mit Kunst, Musik und Kultur trägt sie zu einer Nutzungsvielfalt bei und ist zudem imstande, Bestandsgebäude umzunutzen. Keine andere Branche treibt Innovationen so stark voran wie die Kreativwirtschaft. Der Raumbedarf gerade in verdichteten stark gewachsenen Städten wie Hamburg ist groß, denn viele wichtige Räume sind in den Stadtteilen anderen Nutzungen gewichen. Hier ist bereits ein großes Potential für einen neu entstehenden Nutzungsmix vorhanden. In der Innenstadt von Morgen muss einiges an versiegelter Oberfläche aufgebrochen sein, weil wir Grün, nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern auch aus funktionalen Überlegungen, als Klimafolgenanpassung benötigen. Ähnliches gilt für die Inhalte, einige wilde und ungeplante Kulturorte in der Innenstadt werden der Stadtgesellschaft ebenfalls guttun.

Wenn wir in Richtung anderer Städte schauen, dann tun wir das in der Regel mit einer Bewunderung für eine Idee und deren recht konsequente Umsetzung, die für uns neu ist, z.B. das Thema Fahrradverkehr in Kopenhagen. Jedoch sind die Ausgangsbedingungen in den Städten sehr unterschiedlich. Insofern ist Hamburg gut beraten, zwar von den Besten zu lernen, aber durchaus eigene Ideen zu entwickeln.

Warum also hier nicht ein Konzept entwickeln und erproben, was erstens Zwischennutzung einschließt und zweitens einen gewissen Anteil an dauerhaft sehr günstigen Räumen z.B. für kreativwirtschaftliche Nutzungen sicherstellt?

Die gebürtige Schleswig-Holsteinerin Katja Wolframm studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Lüneburg. Nach dem Studium ging es zweigleisig weiter: einerseits als Geschäftsführerin eines Ladens für handwerklich hergestelltes Modedesign, andererseits promovierte sie über das Thema „Region in der globalen Wirtschaft“. Hierbei ging es um das Erzeugen von Wettbewerbsvorteilen in der Ansiedlung von Unternehmen sowie um Cluster und Kooperationen in der Metropolregion Hamburg. Die Dr. rer. pol. ist bei der Hamburg Kreativ Gesellschaft zuständig für Fragen zu Gewerbeimmobilien, Pop-up- und Zwischennutzungen und Ansprechpartnerin für die eigens vermieteten Objekte.

Stefan Müller-Schleipen
Mitgründer und Geschäftsführer der Initiative – »Die Stadtretter«
Foto: © »Die Stadtretter«

Der Wandel unserer Innenstädte oder was bedroht die Innenstadt wirklich?

Wir stehen erst am Beginn eines gewaltigen Veränderungsprozesses. Wir erinnern uns – für Bankgeschäfte, Urlaubsbuchungen, Konzerttickets, Schallplatten und CDs und auch Zeitschriften und Bücher war früher ein Gang in die Innenstadt notwendig. Diese „Dienstgänge“ wurden mit weiteren Einkäufen, Verabredungen, Kino- und Gastronomiebesuchen verbunden. So wurde innerstädtische Frequenz und Umsätze erzeugt. All das lässt sich heute mit dem Mobiltelefon bequem vom heimischen Sofa aus erledigen.

Das plötzliche Erscheinen von Apps wie „Uber“, „Tier“ und „Bird“, die quasi über Nacht neue Mobilitätsformen einführen und ein jahrhundertealtes Taxigewerbe bedrohen, zeigt exemplarisch, wie schnell die Digitalisierung, die gewachsenen Strukturen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens verändert. Die Bedrohung der Innenstädte allein am Onlinehandel festzumachen ist deshalb zu kurz gedacht. Selbst der „traditionelle“ Onlinehandel steht unter massivem Veränderungsdruck. Fast Fashion wird von Ultra Fast Fashion abgelöst. Was heute auf Tik-Tok zu sehen ist, kann schon morgen auf neuen Plattformen wie Temu oder Shein gekauft werden.

All das hat dazu geführt, dass sich Handelskonzepte überlebt haben und große Kauf- und Warenhäuser geschlossen werden.

Hier muss nach Möglichkeit adjustiert werden. Wir müssen uns alle, vor allem aber die jüngere Generation der „Digital Natives“, die Frage stellen, welche Funktionen die Innenstadt von Morgen überhaupt erfüllen soll. Handel im heutigen Umfang wird es nicht mehr sein. Es werden neue, andere Funktionen als die heute bereits existierenden hinzukommen.

Und wir müssen schneller, mutiger und flexibler auf Herausforderungen und die Veränderungen durch die Digitalisierung reagieren. Mit der derzeitigen Reaktionsgeschwindigkeit haben wir keine Chance den Veränderungsprozess aktiv zu gestalten.

Die Innovationsrevolution von heute trifft auf die kommunale Realität – mit Haushalten, die über ein Jahr im Voraus geplant werden. Auf Personalkapazitäten, um deren Genehmigung und Finanzierung in langwierigen Prozessen hart gerungen werden muss. Wir reagieren auf die schnellen und massiven Herausforderungen mit langsamem und klassischem Handeln. Erst werden Konzepte erstellt, Forderungen an die Politik gerichtet und dann auf Fördermittel gewartet. Und wir reagieren mit Förderprogrammen, die von Antragstellung bis zur Auszahlung der Gelder über zwei Jahre Zeit in Anspruch nehmen und eine Finanzierung von zusätzlichem Personal ausschließen.

Willkommen in der Welt der kommunalen Handlungsspielräume und Geschwindigkeiten. Dabei haben wir jetzt, durch die leerfallenden Kauf- und Warenhäuser und die Änderung unserer Arbeitswelten, die einmalige Chance zur nachhaltigen Transformation der Innenstädte.

Deshalb haben wir im Juni 2020 Die Initiative I Die Stadtretter geründet. Die Stadtretter sind ein Netzwerk von und für Menschen, denen die Zukunft der Innenstadt am Herzen liegt und vereinen heute über 1.300 Städte und Gemeinden, Stadtmarketing, Wirtschaftsförderungen, Lösungsanbieter und Unterstützer mit dem Ziel unsere Innenstädte zu transformieren. Wir teilen Wissen, entwickeln Lösungen und bieten Expertise rund um das Thema Innenstadt. Wir glauben fest an die Zukunft unserer Innenstädte und Ortszentren und setzen uns dafür ein, sie mit neuen Lösungen und Kompetenzen zu stärken, um sie gemeinsam in eine bessere Zukunft zu führen.
www.die-stadtretter.de

Stefan Müller-Schleipen ist Mitgründer und Geschäftsführer der Initiative – Die Stadtretter. Seine berufliche Laufbahn begann als Lufthansa-Pilot. Neben seiner Tätigkeit als Pilot hat er bei Lufthansa in verschiedenen Digitalisierungsprojekten mitgearbeitet und als Ausbilder Piloten auf diversen Flugzeugtypen geschult. Seit 2016 arbeitet er für die Immovativ GmbH in den Bereichen der digitalen Stadtentwicklung und hat 2020 die Initiative – Die Stadtretter gegründet.

Lea Scholze
Geschäftsführerin der AIP Vision GmbH
Foto: © AIP Planungs GmbH

Worin liegt der Niedergang unserer InnenStädte begründet?

Unsere Innenstädte stehen vor großen Herausforderungen. Die Nachfrage nach dem traditionellen Angebot des Einzelhandels. Leerstand verbreitet sich zunehmend, welcher wiederum die Attraktivität der Innenstadt weiter negativ beeinflusst. Beschleunigt wird dieser Prozess weiter durch aktuelle Schließungen großer Warenhausketten. Der Onlinehandel, demographische Entwicklungen und verminderte Nachfrage führen bundesweit zu Schließungen an zentralen Standorten – eine Entwicklung, welche ohne schnelles Handeln bereits jetzt die gravierenden Auswirkungen auf den umliegenden, kleinteiligen Einzelhandel und somit die gesamte Innenstadt deutlich werden lässt.

Die Innenstadt wird seit langem durch monostrukturellen Einzelhandel dominiert. Die Balance der Innenstadt, basierend auf den 6 Säulen der Innenstadt – Handel & Versorgung; Arbeit, Bildung & Entwicklung; Wohnen; Repräsentation & Identität; Gemeinschaft & Teilhabe; Mobilität (Quelle: urbanista) ist seit Jahrzehnten aus dem Gleichgewicht, doch mit der Verschiebung des Konsums aus der Innenstadt in die digitale Welt, werden die Folgen dieses Ungleichgewichts der Innenstadt deutlich.

Alternative Lösungskonzepte, welche eine Transformation der Innenstädte von monostrukturellen Nutzungen in Richtung diverser nutzerorientierten Vielfalt darstellen, müssen daher Strategien und Ansätze bieten, um die Innenstadt unabhängig von Kauffrequenzen und Öffnungszeiten reaktivieren zu können. Im Kampf gegen den Niedergang der Innenstädte muss daher ganzheitlich gedacht werden. Die Innenstadt muss als Gesamtes betrachtet werden, um gezielten langfristig wirtschaftliche Mehrwerte für die Umgebung schaffen zu können.

Die Bedeutung der Innenstadt für die Bürger:innen hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. An einem Ort des Zusammenkommens, des Flanierens und der Begegnung, dominieren nun vielerorts homogene Einzelhandelsstrukturen die Innenstädte. Es ist deutlich, dass insbesondere für jüngere Generationen die Innenstadt an Bedeutung verliert. Konsum verlagert sich und konsumfreie Nutzungen oder anderwärtige Gründe die Innenstadt zu besuchen, gibt oftmals nur wenige.

Doch meiner Meinung nach, ist die Innenstadt maßgeblich für das Funktionieren einer Stadt. In Europa bildet die Innenstadt historisch gesehen den Nukleus, den identitätsstiftenden, anziehenden Kern. Sie sollte das Epizentrum des Geschehens darstellen, ein Ort des Zusammenkommens und des öffentlichen Lebens. Es ist die Aufgabe der Städte, der Stadtplaner:innen und Architekt:innen in Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteur:innen die Innenstadt als attraktiven Standort neu zu denken und sie so für die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten, dass eine positive Entwicklung durch Umnutzung, Revitalisierung und Stadtreparatur langfristig möglich sein kann.

Die aktuellen Herausforderungen im innerstädtischen Leerstand können dabei helfen, zielorientiert Innenstädte zu reaktivieren. Dabei werden Herausforderungen zu Chancen. Erste Lösungsansätze auf baulicher Ebene wurden umgesetzt und zeigen, wie die divers genutzte Stadt – das multifunktionale Gebäude – Leben in die Innenstadt zurückbringen kann und ein Nutzungsmix aus Nahversorgung, Wohnen, sozialen und städtischen Einrichtung oder Dienstleistungen einen Beitrag an die belebte Stadt leisten kann.

Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht die City für die Städte und Bürger:innen? Brauchen wir die City noch als zentralen Ort in der Stadt – oder hat sie sich überlebt?

Wie sieht die InnenStadt von morgen aus? Wie können die InnenStädte revitalisiert werden und wieder an Bedeutung gewinnen? Welche InnenStädte können aus Ihrer Sicht beispielhaft für die notwendige Transformation stehen?

Aus meiner Sicht stellt sich die Innenstadt von morgen als ein diverser, inklusiver und generationenübergreifender Ort dar. Eine „Stadt der kurzen Wege“, wie sie in der Charta von Leipzig genannt wird, mit Verweilqualitäten, sowohl konsumorientierten als auch konsumfreien Nutzungen und neu geschaffenem Wohnraum dar, welcher die Stadt ungeachtet von Ladenöffnungszeiten und Feiertagen aufleben lassen kann.

Aus Erfahrungen im Bereich der Stadtreparatur durch Revitalisierung großflächiger Handelsimmobilien – insbesondere durch das jüngst fertiggestellte ehemalige Karstadt Gebäude in Recklinghausen – sehen wir den direkten positiven Einfluss einer umgenutzten Warenhausfläche im Herzen der Recklinghäuser Innenstadt. Seit 2023 ermöglicht das MarktQuartier Recklinghausen nebst Nahversorgung, Büroflächen, Zahnarztpraxis, Apotheke und Hotel, Senior:innen selbstständiges Wohnen in der Innenstadt. Eine Kita mit Dachspielplatz, in der Recklinghäuser Innenstadt schafft Synergieeffekte zwischen Jung und Alt. Der neue Nutzungsmix sorgt für eine spürbare Reaktivierung der Innenstadt, eine Aufschwungsbewegung in benachbarten Straßen und zeigt, dass Erhalt und Umbau erfolgreich möglich sein können. Auch in anderen Städten ist der Bedarf nach Handeln groß und standortspezifische Lösungskonzepte werden entwickelt. Denn es ist sicher, Inspiration hilft, doch es gibt keine Blaupause, kein Erfolgsrezept im Umgang mit der Reaktivierung der Innenstadt. Aber es gibt Parameter und Tools, die maßgeblich zu einer erfolgreichen Umsetzung beitragen können und diese gilt es einzusetzen, um den Innenstädten eine Zukunft bieten zu können.

AIP Unternehmensgruppe:
Die AIP wurde 1990 als Architekturbüro durch Gerd Rainer Scholze gegründet. Aufbauend auf seiner langjährigen Erfahrung bei der Mannesmann AG entwickelte sich die Unternehmensgruppe konsequent mit den Leistungen Planung und Steuerung in eigenständige Gesellschaften und ist heute erfolgreich im In- und Ausland tätig. Mit Gründung der GRS Beteiligungen GmbH im Jahr 2013 wurde das Leistungsbild der AIP um den Bereich Projektentwicklung erweitert.

Die AIP Vision GmbH ist seit 2022 die jüngste Ergänzung innerhalb der AIP Unternehmensgruppe. Als innovativer Think-Tank beschäftigt sie sich mit nachhaltigem Design im Bereich Architektur, Städtebau und innovativen Revitalisierungskonzepten. Seit einigen Jahren befasst sich die AIP Unternehmensgruppe intensiv mit der innerstädtischen Leerstandsproblematik und den erforderlichen Lösungen zur Stadtreparatur.

Lea Scholze:
Lea Scholze ist seit 2023 Geschäftsführerin der AIP Vision GmbH. Als Architektin und Planerin befasst sie sich intensiv mit der Revitalisierung und Transformation leerstehender Handelsimmobilien im Rahmen der Stadtreparatur. Ziel ist es, neue multifunktionale Nutzungskonzepte für Standorte zu entwickeln und langfristig wirtschaftlich erfolgreich umzusetzen. Sie hat ihr Architekturstudium an der TU München (B.A) und an der TU Delft (M.Sc) erfolgreich absolviert und ist nach beruflicher Tätigkeit in den Niederlanden seit 2021 bei der AIP Unternehmensgruppe in Düsseldorf in leitender Position tätig.

Thomas Höxtermann, Dipl.-Ing. Architekt BDA und SIA
seit 2016 Mitinhaber und Geschäftsführer von Nattler Architekten in Essen
Foto: © Susan Rentsch

Der Niedergang unserer Innenstädte ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, wie beispielsweise dem Wandel des Konsumverhaltens, der Zunahme des Online-Handels und der Veränderung der Mobilität. Geschlossene Ladenlokale begünstigen die Verödung der Innen-städte, sie ziehen weniger Menschen an und dadurch wirken Innenstädte wenig attraktiv. Leider wurde es in der Vergangenheit versäumt, Verweilorte für Menschen zu schaffen, um Innenstädte attraktiver zu gestalten, denn Innenstädte dienen nicht ausschließlich dem Konsum, sondern sind geprägt durch historisch gewachsene Strukturen. Dennoch teilen wir nicht die Meinung, dass dies auf alle Innenstädte zutrifft. Natürlich müssen große Handelsketten in Innenstädten schließen, z. B. in München, Düsseldorf oder im Ausland: Paris und London erleben diesen Niedergang jedoch nicht. Im Gegenteil, die Innenstädte erfinden sich neu, es entstehen beispielsweise „Pop-up“-Stores auf brachliegenden Verkaufsflächen, mit speziellen, aber reduzierten Angeboten, die eine Belebung der Innenstädte fördern.

Die City von heute hat eine große Bedeutung für Städte und BürgerInnen, da sie als zentraler Ort für Handel, Kultur und soziale Interaktion dient. Eine große Auswahl an Möglichkeiten wird auf kleinem Raum gebündelt angeboten.

Aus unserer Sicht hat sich die City als zentraler Ort der Stadt keineswegs überlebt. Wir verzeichnen ein Ladensterben in den Innenstädten, dies ist jedoch nicht zwangsläufig mit dem Sterben der Innenstädte gleichzusetzen, da die Innenstädte als solche bleiben. Sie verändern sich zwar deutlich und der Anteil des Handels nimmt ab, speziell der großer Einzelkaufhäuser. Dennoch macht dieser Wandel Platz für Neues. Die C&A Bauten der Familie Brenninkmeijer belegen beispielhaft, wie Bestandsgebäude umgenutzt und neuen Nutzungen zugeführt werden können.

Eine Innenstadt von morgen ist Jung und Alt, lebendig und ruhig zugleich. Wir sollten der Frage nachgehen, wie man historisch gewachsene Strukturen einer Innenstadt erhalten und trotzdem moderne Strukturen und Materialien implementieren kann. Die Bedürfnisse unterschiedlicher Kulturen und Altersgruppen geben uns bereits hilfreiche Hinweise für Konzepte, um lebendige Urbanität zu schaffen – neben der Positionierung flexibler Handelsflächen, Wohlfühl- und Verweilorte sowie Wohnen in der Innenstadt als Belebung und Mix. Es gilt Grünflächen einzurichten, die dem Klimawandel Rechnung tragen und Orte zu schaffen, die ein Wir-Gefühl stärken. Wir denken beispielsweise an Sport- und Spielflächen, nicht nur für Kinder und Jugendliche, sowie Kunst zu integrieren, Kunst am Bau präsenter in die Stadtarchitektur einzubeziehen. Das sind Potenziale, die wir nutzen sollten. Beispiele für Innenstädte, die eine erfolgreiche Transformation durchlaufen haben, könnten als Vorbild dienen, um anderen Städten zu zeigen, wie sie ihre Innenstädte zukunftsfähig gestalten können.

Ein Beispiel für eine resiliente und funktionierende Innenstadt ist meine Wahlheimatstadt Düsseldorf mit ihren unverwechselbaren Qualitäten wie der Altstadt, der Königsallee, der Rheinufer-Promenade und den zahlreichen Grünflächen – meine Stadt lebt und atmet.

Wir als Architekten und Stadtplaner können nur die Kulisse bieten, belebt wird eine Innenstadt jedoch von Menschen, die in ihr leben. Dazu gehört es, eine Stadt so zu gestalten, dass sich dort unterschiedliche Generationen und Nationalitäten aufhalten und wohlfühlen können. Unsere Aufgabe ist es hinzusehen und hinzuhören, denn eine gelungene Stadtplanung gelingt nur gemeinsam.

Thomas Höxtermann, Jg. 1970, studierte Architektur mit dem Zusatz Wirtschaftswissenschaften an der RWTH Aachen. 1998 Projektleiter bei ingenhoven architects, 2016 Mitinhaber und Geschäftsführer von Nattler Architekten in Essen. Mit seinem Geschäftspartner, dem Architekten Heinz-Georg Guth, leitet Thomas Höxtermann das traditionsreiche und 1948 gegründete Architekturbüro. 2022 wurde Thomas Höxtermann in die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) berufen.

Nicola Halder-Hass
Geschäftsführende Gesellschafterin der Bricks&Beyond I Vorständin im Verband für Bauen im Bestand
Foto: © tiwigraphie

Städte müssen ihre Wirkkräfte aus Erbe, Bestand und Neubau neu codieren.

Energiewende und Klimaanpassung, Digitalisierung und Mobilität, Demographie und Migration: Die europäische Gesellschaft befindet sich einem der größten Transformationsprozesse seit der Industrialisierung. Es geht um das Zusammenleben unterschiedlicher Lebensentwürfe und Nationen, das Aufeinandertreffen von globalen Entwicklungen im lokalen Kontext. Es geht um Nachverdichtung statt Neubau, Nutzungskontinuität und Umnutzung, Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit.

Was ist die DNA unserer Städte?
Es gibt ein Role-Model: die Europäische Stadt als Synonym und die europäischen Städte als Praxisbeispiele.

Was wir wissen:
Städte sind robust. Über die Jahrhunderte haben sie sich dem gesellschaftlichen Wandel angepasst und flexibel darauf reagiert, modische Trends überdauert und eine Drittverwendung ermöglicht. Unsere Städte werden auch diese Transformation überstehen.

Was wir sehen:
Überall in Europa entstehen neue Ideen, Konzepte und erste bauliche Beispiele.

Was wir erreichen können: 

Es liegt an uns, die neue Zeitschicht zu definieren und unseren Städten die Wirkkraft für die Zukunft zu geben.

Die Aufgaben und Fallstricke sind offensichtlich, die Chancen und Potenziale schlummern noch im Dornröschenschlaf. Dabei liegen die Karten auf dem Tisch. Es geht um:

  • Shoppen, Kultur, Arbeiten, Gastronomie, Freizeit, Bilden und Mobilität,
  • die vielfältige, identitätsstiftende, maskuline, feminine und diverse Stadt,
  • die Erlebnis- und Eventstadt, die multicodierte 24/7 Stadt, die niemals schläft, die 15- Minuten-Stadt.
  • und temporäre Nutzungen, Zwischennutzungen, das Ausprobieren in Labs und Reallaboren.

Entscheidend wird sein, ob wir als Gesellschaft unser bisheriges Mindset transformieren können. Wenn es gelingt, eine gesellschaftliche Akzeptanz für das Absenken der Baustandards zu verabreden, sind wir auf einem guten Weg. Wenn zum Beispiel der Schallschutz minimiert wird und die Geräusche des Nachbarn zukünftig hörbar sind, dann wird es auch einfacher, Mixed-Use-Gebäude in die Umsetzung zu bringen.

Wir müssen die sektoralen Klimaziele erreichen. Gelingt es, dafür einen Re-Thinking-Prozess der Energiesysteme, der Ressourcenintensität, der Effizienz und Suffizienz, der Nutzungs- und Lebensstile sowie der Geschäftsmodelle gemeinsam einzuleiten? Die laufenden Projektentwicklungen, die Gespräche in der Branche und aufseiten der Verwaltungen zeigen: Ein Anfang ist gemacht. Wir sind auf dem Weg!

Der Blick in die Geschichte kann als Kompass und Schatzkiste dienen. „Dritte Orte“ sind keine Erfindung der letzten Jahre, sondern eine Erkenntnis, über die die Soziologie schon vor 20 Jahren schrieb. Berndhard Schulze sprach von „Kulissen des Glücks“. Wenn wir alte Lieblingsorte reaktivieren und neue kreieren wollen, müssen wir die heutigen Bedürfnisse der Gesellschaft erkennen und baulich umsetzen, um Erhalt und Weiterentwicklung ringen, neue Leitbilder aushandeln, Leerstand abbauen und Geschäftsmodelle anpassen. Und – wir müssen zusammenrücken. Die Transformation in unseren Städten, Innenstädten und Quartieren gelingt nur im gemeinsamen Aushandlungsprozess der Eigentümer:innen, Planenden und der Verwaltung.

Noch stellen die bauordnungsrechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen eine Hürde dar. Brachgefallene Brauereien, Warenhäuser, Rathäuser, Schulen und Kasernen passen nicht mehr zu heutigen Baustandards, Normen und Bauordnungen. Sie trotzdem profitabel zu transformieren, bedarf Balance, Kompetenz und Zeit, bis alle Zielvorgaben und Prämissen in einer genehmigungsfähigen Planung vereint sind.

Nicola Halder-Hass
Geschäftsführende Gesellschafterin der Bricks&Beyond I Vorständin im Verband für Bauen im Bestand

Als Denkmalpflegerin und Immobilienökonomin ebs vereint sie wesentliche Kompetenzen bei der Entwicklung von Denkmalen und berät Immobilienunternehmen von Denkmalimmobilien, damit genehmigungsfähige, wirtschaftliche und nachhaltige Planungen entstehen. Zudem ist sie u. a. Dozentin an der IREBS-Immobilienakademie, Mitglied im Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz und Trägerin der Ferdinand-von-Quast-Medaille des Landes Berlin für denkmalpflegerische Verdienste.

www.bricksandbeyond.eu I www.fuerbauenimbestand.de
www.linkedin.com/in/nicola-halder-hass

 

Klaus Burmeister
Politologe, Foresight-Experte und Autor
Foto: © Klaus Burmeister

Back to the Future: 20 Jahre Zukunft der Stadt

Die Zukunft der (Innen-)Stadt beschäftigt mich schön länger. Andreas Grosz hat meinen heutigen Beitrag zu verantworten. Er war es, der mich ermahnte, meinen Betrag doch endlich abzugeben und im Nebensatz kurz einstreute, damals im Interview mit Schmitz-Morkramer hast Du alles schon auf den Punkt gebracht. Das war 2019.

Ich habe dann den Fehler begangen und noch in weiteren alten Texten von mir gekramt. Dieser Rückblick war Beides, ernüchternd und bestätigend. Ganz ohne Eitelkeit hat es mich erfreut, dass das Verfallsdatum meiner zentralen Zukunftsaussagen längst nicht erreicht ist. Andererseits zeigt es sich, dass die Probleme der Stadt sich weniger durch Zeitgeistigkeit als durch Kontinuität auszeichnen.

Vorsicht: Sie lesen jetzt also eine Textkollektion, die chronologisch geordnet ist, am Ende findet sich die Quellen.

2004

Städte sind Orte der Kontraste, der Vielfalt, der Beschleunigung. „Stadtluft macht frei“, sagte man im Mittelalter – ein Versprechen, das der Stadt seither erhalten geblieben ist. Städte sind aber auch Orte der Bedrohung, der Konflikte und des Scheiterns. Wachstum und Schrumpfung existieren nebeneinander, Freiheitlichkeit und Kontrolle treten gegeneinander an, globale Trends und Entwicklungslinien treffen aufeinander, durchkreuzen sich, verstärken sich gegenseitig oder heben sich auf. Heute wird die Stadt wieder verstärkt als Ort neuer Wissenskulturen, als innovatives Milieu, als Keimzelle des Neuen diskutiert. Die Stadt als „Open City“, als Ort innovativer Kraft.

2009

Wer die aktuellen Probleme von Karstadt, Hertie oder Kaufhof als Einzelfälle betrachtet, ignoriert die größeren Zusammenhänge: Die Kaufhauskrise steht stellvertretend für eine mangelnde Innovationskraft im Einzelhandel. Für den Kunden ist es letztlich egal, ob er in Essen, Hannover oder Berlin shoppen geht. Er darf sicher sein: Die Angebote in den Innenstädten, Einkaufspassagen und Malls wiederholen sich. Gähnende Langeweile macht sich breit, die auch von Stadtmarketing-Aktionen nicht kompensiert werden kann. Es scheint, als hätten Warenhauskonzerne und Stadtplaner noch keine Antwort auf den tiefgreifenden Wandel der Konsumgesellschaft gefunden.

Der Konsument von heute will Produkte, die seinen Anforderungen und Wünschen entsprechen. Er will unabhängig von Moden oder Konfektionsgrößen ein maßgeschneidertes Angebot, das eine Alternative zum Bestehenden bietet. Und er will seine Waren in Besitz nehmen und mitgestalten. Individuelle Maßanfertigungen schätzt er höher als gesichtslose Massenware.

Das Update der Kaufhäuser. „MyStore“ heißt die Idee (übrigens, eine Konzeptidee von mir) eines Do-it-yourself-Kaufhauses. Der Ansatz zeigt, was künftig möglich ist. Die Kunden kommen nicht nur, um zu kaufen, was ihnen vorgesetzt wird, sondern um selbst zu entwerfen, zu produzieren und sich auszutauschen. In Fertigungsinseln kann man selbst Hand anlegen – bei Bedarf mithilfe von Fachpersonal.

Warum leiden die einstigen Cashcows des Einzelhandels heute zunehmend an Bedeutungsverlust?
In einer globalisierten Informationsgesellschaft, in der es auf Knopfdruck möglich ist, den Preis und die Qualität sämtlicher Produkte miteinander zu vergleichen und diese bei Gefallen per Mausklick zu ordern, ist die Warenwelt zu groß geworden. Die Kaufhäuser können dem Prinzip „Alles unter einem Dach“ kaum noch Folge leisten. Aber sie haben einen entscheidenden Vorteil: Die Lust am haptischen Einkaufen – also anfassbare Waren statt virtuelles Shopping – ist größer denn je. Besonders kleine Manufakturen, Design-Läden und solides Handwerk erleben gegenwärtig einen Boom. Das DIY-Kaufhaus (do it yourself) greift diese Interessen auf und bündelt sie unter einem Dach – so entsteht kreative und bedarfsorientierte Produktions-, Konsum- und Erlebniswelten.

2016

In Zeiten des Umbruchs wie unseren ist die Stadt auch deshalb als Gegenstand interessant, weil sie der natürliche Ort ist, an dem neue Lösungen zur gelebten Praxis werden müssen. Die Stadt ist das »Reallabor« par excellence, in dem neue Modelle für das Leben und Wirtschaften nicht als Versuchsanordnung, sondern unter realen Produktionsbedingungen erprobt werden. Die Stadt ist deshalb ein Ort des Lernens, der neuen Geschäftsmodelle und der (sozialen) Intervention und Innovation. Zentrale Systeminnovationen, wie die Mobilitäts- und Energiewende, müssen auf städtischer Ebene eingeleitet werden. Auch die Migrationsbewegungen des 21. Jahrhunderts, die durch die Flüchtlingskrise ins Zentrum gesellschaftlicher Debatten gerückt sind, sind eine Aufgabe, die wesentlich von und in den Städten bewältigt werden müssen.

2018

Städte als Agenten des Wandels: Fünf Thesen für eine transformative Politik

These 1: Städte müssen sich als Mitgestalterinnen positionieren.
Städte und Behörden haben die Aufgabe und die Chance, im Wandel ihre Rolle neu zu definieren. Vor allem durch die Digitalisierung getrieben ergeben sich neuartige Innovationspotenziale, wie sie in Konzepten von „Smart Cities“ diskutiert werden. Hier ist allerdings eine lernfähige Verwaltung erforderlich, die, nicht nur technikinduziert, vorhandene Handlungsoptionen (wie Open Data) ausschöpft und sie auch im Sinne einer offenen Beteiligungskultur nutzt. Natürlich darf man nicht blauäugig sein, aber ein erweiterter Blick ist notwendig, um Städte auf Augenhöhe zur anerkannten und gemeinwohlorientierten Akteurin zu machen. Die Rolle der Genehmigerin reicht nicht mehr, Stadtverwaltungen müssen sich schrittweise zum Ermöglicher, Mitgestalter und „Mitspieler“ weiterentwickeln.

These 2: Eine ressortübergreifende und vorausschauende Stadtentwicklungspolitik auf der Ebene der Länder, des Bundes und der EU ist notwendig.

Eine integrierte Stadtentwicklungsplanung und vor allem eine systemische Innovationssicht auf Stadt und Region, wie sie konzeptionell beispielhaft im Konzept der „Zukunftsstadt“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF 2015) vorlegt wurde, ist unverzichtbar, gerade auch vor dem Hintergrund einer gesamtgesellschaftlichen Umbruchsituation. Erst ausgestattet mit einer solch übergreifenden Handlungsperspektive können die positiven Zukunftspotenziale der Städte ausgeschöpft werden. Beispielhaft könnten gezielt Wettbewerbe um gute Lösungen, angefangen von lokalen Energiegenossenschaften über die Revitalisierung der Innenstädte bis hin zu Wissenschaftsläden, Fablabs und Startup Hubs mit Coworking Offices, vor Ort helfen, eine breite Innovationskultur zu fördern. Denkbar wäre eine Art Städteolympiade als publikumswirksame Innovationsplattform und -wettbewerb, die die Idee des 1965 gestarteten Spiels ohne Grenzen aufgreift und ins Heute transformiert.

These 3: Städte können als Reallabore und Katalysatoren für angepasste Lösungen in Kommune und Region fungieren. Bereits heute existieren mannigfaltige Ansätze guter Gestaltungspraxis vor Ort, nicht zuletzt zeigt dies das Forschungsfeld Experimenteller Wohnungs- und Städtebau (ExWoSt) und dort das gerade beendete Projekt „Potenziale von Kleinstädten in peripheren Lagen“. Im Sinne einer kooperativen Kleinstadtentwicklung wurden in den acht ausgewählten Modellstädten in Szenarioprozessen mit städtischen Akteurinnen und Akteuren entlang von Handlungsfeldern wie Mobilität, Energie, Arbeiten, Wohnen oder Einkaufen Perspektiven einer zukunftsfähigen Entwicklung erarbeitet, die jetzt weiterverfolgt werden.

These 4: Städte brauchen Kooperation zum Erfolg. Wie aus den bisherigen Thesen hervorgeht, wird Kooperation mit den vielgestaltigen Trägerinnen und Trägern von Innovation und Entwicklung in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen, einerseits mit der Stadtgesellschaft, wie ansässigen Unternehmen oder Bildungseinrichtungen, und andererseits mit benachbarten oder entfernten Wirtschaftsförderungen.

These 5: Städte als Lernorte und Erprobungsräume in Zeiten des Umbruchs.
In Städten stellen sich Probleme unvermeidlich auf einer systemischen Ebene, weil die Interdependenz unterschiedlicher Themen- und Politikbereiche sichtbarer und häufig unübersehbar ist. Das sind gute Voraussetzungen, um vor dem Hintergrund einer kollaborativ erarbeiteten Gesamtperspektive Neues gemeinsam zu erproben und dabei auch innovative und angepasste Beteiligungsverfahren und -prozesse einzuüben und zu vertiefen. Städte sind unverzichtbare Arenen lokaler Demokratie, nicht nur in Zeiten des Umbruchs.

2019

Meine Grundthese lautet, dass seit dem 19. Jahrhundert im Handel keine grundlegenden Innovationen mehr stattgefunden haben. Le Bon Marché, das erste französische Kaufhaus Mitte des 19. Jahrhundert., führte bereits Kolonialwaren aus aller Herren Länder, hatte ein Shop-in-Shop-System, baulich angliedert war eine Manufaktur, in der parallel produziert wurde. Es gab soziale Fürsorge, Bildungsangebote, Sprachkurse für Mitarbeiter. Harrods hat um das 19. Jahrhundert bereits „same day delivery“ eingeführt, was 2013 von Amazon als Neuheit verkündet wurde. Wir brauchen heute innovative Handelsunternehmen, die auf die skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen konstruktiv und ideenreich eingehen. Wir brauchen einen Begriff von Urbanität, der Veränderung und Umbrüche als Chance begreift. Die Dynamik des Melting Pot New York ist ohne seine Migranten nicht zu verstehen – denken wir einmal an Little Italy oder Chinatown. Migration und Demografie, Klima- und Verkehrswende, Digitalisierung und neue Arbeitsformen: Eine Welt, die sich so fundamental verändert, bietet doch auch ungeheure Chancen, die aufgegriffen und gestaltet werden sollten. Unordnung und Unübersichtlichkeit als kreatives Potenzial für neues urbanes Leben, das letztlich die gesamte Stadtgesellschaft einbezieht.

Wir sollten daher den Blick über die City hinaus öffnen für die Entwicklung in den Quartieren und auch für die Stadtränder. Die Stadtgesellschaft befindet sich in einer Krise. Es muss doch um lebenswerte Verhältnisse in der gesamten Stadt gehen. Und da ist noch von Marzahn bis Chorweiler viel zu tun. Wir müssen die drohende Spaltung der Stadtgesellschaft aufhalten. Die Europäische Stadt steht doch für Ausgleich und Zusammenhalt. All das strahlt letztlich auch auf die City ab. Deshalb brauchen wir den Blick auf die ganze Stadt. Projekte, die Handel, lokale Produktion, unternehmerisches Handeln, Kunst und Kultur, Wohnen und Arbeiten unter einem Dach miteinander verbinden. Eine Aufbruch- und Start-up-Mentalität, die Bewegung in die verkrusteten Strukturen bringt. Hier könnten Architekten und Designer im Verbund mit Handelskonzernen, Entrepreneuren und Stadtentwicklern zusammenarbeiten und Neues entwickeln. Solche geförderten Experimente bilden den Humus, auf dem neue Formen des Arbeitens, Wohnens, des Handels und Verkehrs entstehen können.

2023

Im Laufe der Zeit hat die Innenstadt ihre Mitte verloren. Sie wurde zum Funktionsort reduziert. Heute ist die klassische Einkaufsstadt tot und der Schmerz ist hörbar. Die Reaktionen darauf sind vielstimmig, aber ein neuer und attraktiver Entwurf ist nicht sichtbar. Was dazu benötigt wird, ist ein Verständnis für systemische Zusammenhänge, vernetztes Denken, neue Lern- und Kooperationsformen, die Bereitschaft zum experimentellen Handeln sowie Visionen für eine zukunftsresiliente Gestaltung der Gegenwart.

Heute geht es um nicht weniger als die Neuerfindung der Stadt . Eine, die das Alte in sich trägt und das Neue integriert. Das bedeute nicht „Tabula rasa“ oder eine „Wiederkehr des Wettbewerbs um Hallenbäder oder um den x-ten Popup-Store“. Es geht ums Ganze. Es geht um Stadt als Lebensort und um eine dauerhaft zukunftsfähige gesellschaftliche Entwicklung, also um die ganzen großen Themen. Es geht um die Innenstadt als Gemeinwohlauftrag einer antizipativen Daseinsvorsorge. Es geht um die Innenstadt als ein lebendiges Ökosystem. Es geht um ein langfristig angelegtes Unterfangen, begleitet vom Sound der Umbrüche unserer Zeit: Corona, Krieg, Klima und Transformation.“

2023

2009
KAP Magazin #3 – Shop/ping
My Store. Das Kaufhaus für das 21. Jahrhundert!
www.kap-forum.de/kap-magazin-3/

2016
Stadt als System – Trends und Herausforderungen für die Zukunft urbaner Räume (zus. mit Ben Rodenhäuser)
www.oekom.de/buch/stadt-als-system

2018
6. Hochschultag der Nationalen Stadtentwicklungspolitik „Stadt und Region als Arbeitsort“
Arbeitswelten der Zukunft in Zeiten des Umbruchs – ein Ausblick
www.isw-isb.de

2019
KAP Magazin #11 – Zukunft
HANDEL IM WANDEL IDEEN FÜR DIE STADT DER ZUKUNFT. Andreas Grosz im Gespräch mit Zukunftsforscher Klaus Burmeister und dem Architekten
Caspar Schmitz-Morkramer
www.kap-forum.de/kap-magazin-11/

2023
Netzwerk Innenstadt NRW. TAGUNG INNENSTADT 2023
https://publish.flyeralarm.digital/dokumentation-tagung-innenstadt

Klaus Burmeister
Politologe, Foresight-Experte und Autor
Der gelernte Starkstromelektriker war nach seinem Studium der Politologie erst an der Freien Universität Berlin beschäftigt, dann am IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin und ab 1990 hat er das Sekretariat für Zukunftsforschung (SFZ) in Gelsenkirchen mit aufgebaut. 1997 gründete er Z_punkt The Foresight Company, die heute zu den führenden Unternehmen für strategische Zukunftsberatung und Corporate Foresight zählt. 2014 rief er das foresightlab ins Leben, das er leitet. Ab 2016 war er Geschäftsführer und ab April 2019 ist er Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins „D2030 – Deutschland neu denken“.

Seit drei Jahrzehnten beschäftigt er sich intensiv mit den sich wandelnden Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft. Der Prozess der digitalen Transformation, technologische Disruptionen und gesellschaftliche Umbrüche sowie die Mitgestaltung notwendiger Übergänge im Sinne einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation sind Leitthemen seiner Arbeit. Was dazu benötigt wird, ist ein Verständnis für systemische Zusammenhänge, vernetztes Denken, neue Lern- und Kooperationsformen, die Bereitschaft zum experimentellen Handeln sowie Visionen für eine zukunftsresiliente Gestaltung der Gegenwart.