Die Provinz wird unterschätzt

Nachhaltige Entwicklungen auf dem Land: Wie Schlafdörfer neues Leben entfalten. 
Von Oliver Hall

Das Eigenheim im Grünen ist nach wie vor der Traum vieler, wenn sie eine Familie gründen. Häuslebauer wollen erschwingliche Immobilien, gut erreichbare Kitas und Schulen, nah gelegene Erholungs- und Freizeitflächen und saubere Luft. Ideal ist es, wenn darüber hinaus Kultur-, Erlebnis- und Shoppingangebote in Reichweite sind. Da verwundert es nicht, dass funktionslose Schlafdörfer in der Peripherie wie Pilze aus dem Boden schossen, zu Speckgürteln im Umland der Großstädte führten und sich tagtäglich lange Staus in die Stadt hinein und hinaus bildeten.

Architektur und Stadtplanung haben Zersiedelung, Flächenfraß und Funktionsverlust des ländlichen Raums ebenso wenig gelöst wie die sinkende Attraktivität und mangelnde Barrierefreiheit der Einfamilienhäuser nach Ende der Familienphase. Auch und gerade Klein- und Mittelstädte kennen diese Probleme, Einfamilienhausgebiete werden aber aus Vermarktungsgründen weiter ausgewiesen. Angesichts der 15,9 Millionen Einfamilienhäuser, die in Deutschland bislang gebaut sind (statista 2019) und dem stetigen Zuwachs der Versiegelung also ein Grund, über flexiblere und flächeneffizientere Nutzungskonzepte nachzudenken.

Bislang mussten Menschen mit mittleren oder geringen Einkommen sich entscheiden: Entweder wählten sie eine erschwingliche Geschosswohnung ohne Garten in der Stadt mit kurzen Wegen zur Arbeit, oder sie entschieden sich für das Eigenheim das sie sich nur in dünner besiedelten, peripheren Gegenden leisten konnten und hatten dafür weite Wege zur Arbeit. Was aber, wenn die Fahrt zum Arbeitsplatz nicht mehr erforderlich ist, weil sich die Arbeit vom Firmenstandort löst und mobil wird?

Symbiose von Leben und Arbeit

Vor etwas über einem Jahr war noch nicht abzusehen, dass eine Pandemie zu einem (unfreiwilligen) Feldversuch für eine Symbiose aus Leben und Arbeiten auf dem Land werden würde. Die Erfindung des iPhones 2007 kann als die wegweisende Erfindung gesehen werden zu einer sich digital vernetzenden Welt an jedem Ort, mit den heute sichtbaren Trends zum mobilen Arbeiten und zur Sharing-Mentalität der jungen Generation, die sich etwa in Form von Car-Sharing und Co-Working Spaces zeigen. Dies deutet darauf hin, dass ländliche Räume neue Chancen für eine nachhaltige Entwicklung bekommen, lediglich die Überzeugung fehlte, dass das auch in Klein- und Mittelstädten funktionieren würde.

Die Corona-Pandemie wirkt wie ein Katalysator und verstärkt das, was gesellschaftlich schon wahrnehmbar war. Einer aktuellen Umfrage des Digitalverbands Bitkom zufolge denkt jeder Fünfte über einen Umzug auf das Land nach, wenn die Arbeit im Homeoffice zum Dauerzustand würde. Und tatsächlich erörtern auch ArbeitgeberInnen auf breiter Basis neue Arbeitsformen für die Zeit nach der Pandemie und stellen die Sinnfälligkeit großer Bürokomplexe in Frage.

Büromarkt im Sinkflug

Laut einer Analyse von German Property Partners (GPP) sinkt der Flächenumsatz bei der Vermietung von Büroimmobilien bereits dramatisch. Auch die Verkehrsemissionen sind insbesondere in den Phasen des Lockdowns stark gesunken. Nicht nur Klimaschützer*innen sehen das Potential, die stark gesunkenen Emissionen auch in Zukunft niedrig halten zu können.

Unser Alltag wurde und wird durch den Lockdown auf den Kopf gestellt. Wie wir wohnen, hat seit März 2020 eine völlig neue Bedeutung bekommen. Stand bislang die Wohnung für Rückzug und Erholung, mussten plötzliche ganz neue Funktionen in die Wohnung integriert werden. Das eigene Zuhause ist für einen Großteil der Gesellschaft zum Arbeitsplatz geworden, zur Schule, zum Ort für den Zeitvertreib, und ja, auch zum Ersatz für Café, Bar oder Restaurant und Kino. All das geschieht in dieser Zeit online und on-demand. Das eigene Wohnumfeld wurde zum Sportplatz mit Abstandsregeln und der private Balkon oder Garten zum wertvollsten Besitz.

Flexibler Wohnen

Ein Großteil der eigenen vier Wände ist aber räumlich nicht so ausgestattet, um all diese Funktionen aufnehmen zu können. Während ein Teil der Bevölkerung im Lockdown ihrer funktions-überladenden Wohnung kaum entfliehen kann, werden Alleinlebende in die Isolation getrieben, weil soziale Kontakte und Flurgespräche im Betrieb ausbleiben. Beides wirkt sich negativ auf das mentale Wohlbefinden aus. Der Feldversuch Homeoffice beziehungsweise „Homeschooling“ zeigt, dass Digitalisierung, Flexibilisierung und soziales Leben zusammen gedacht werden müssen.

Bisher galten digitale Nomaden als Randphänomen: Beneidenswerte Menschen, die nichts weiter brauchen als einen Laptop und einen guten Internetanschluss, um von jedem Ort der Welt arbeiten zu können, wie Blogger und Freelancer. Corona hat gezeigt, dass diese Art zu arbeiten für einen nicht unerheblichen Teil der Arbeitnehmer*innen möglich ist. Das sogenannte „3+2+2 Modell“ wird nach Corona verstärkt eingefordert. Mit drei Bürotagen, zwei Tagen im Homeoffice, plus zwei Tagen Wochenende scheint eine gute Work-Life-Balance gefunden. Der bisherige Sog der Großstadt als Arbeitsort wird damit relativiert.

Das Schlafdorf lebt

Umgekehrt hat dies bereits jetzt die Attraktivität des ländlichen Raums stark erhöht. Aus dem Schlafdorf wird durch die Rückkehr der Arbeitsplätze wieder ein lebendiges Quartier. Dies ermöglicht auch der Bäckerei, dem Cafébetreiber und anderen Dienstleistern, dort finanziell zu überleben. Damit einher geht das erwachende ökologische Bewusstsein mit ortsnaher Produktion und lokaler Wertschöpfungskette, was das bisherige Global-System in Frage stellt und zu etwas Neuem wandelt – der Glokalisierung. Immer mehr Menschen entdecken auf diese Weise den ländlichen Raum neu und suchen mit ihrem mobilen Arbeitsplatz in Co-Working und Co-Living Modellen den Traum vom Wohnen im Grünen, ohne dabei den sozialen Zusammenhalt zu Gleichgesinnten aufgeben zu müssen.

Aus der Erfahrung mit dem Corona Feldversuch kann eine neue Balance zwischen Stadt und Land als Forderung an die Stadtplanung formuliert werden. Bislang galten die Antipoden „Schwarmstädte wachsen bis an ihr Limit“ und „die Provinz schrumpft bis zur Bedeutungslosigkeit“. Einerseits drängen die Menschen in die attraktiven Städte, andererseits stehen in kleineren Gemeinden auf dem Land immer mehr Häuser leer und die Infrastruktur schwindet.

Erfolgreiche metropolferne Region

In Zukunft bleiben Großstädte attraktiv, aber mindestens genauso attraktiv für zahlreiche Lebensmodelle sind Städtenetzwerke im ländlichen Raum, wie beispielsweise in Ostwestfalen Lippe, am Oberrhein, oder die Region Bodensee Oberschwaben, die in einer wissenschaftlichen Studie sogar als „erfolgreiche metropolenferne Region“ bezeichnet wird (Danielzyk, Hauptmeyer, wüstenrot stiftung).

Es zeigt sich, dass Städtenetzwerke viel besser in der Lage sind, auf diverser werdende Lebensmodelle zu reagieren und neben verdichteten, größtenteils historischen Stadtkernen genügend Freiflächen für ein gesundes Lebensumfeld bereitstellen. Natürlich müssen wir dazu Mobilität, Arbeit, Gewerbe und Klimaprobleme in den Klein- und Mittelstädten lösen, ebenso wie die Internetversorgung bis in jedes Dorf.

Der ländliche Raum darf nicht nur als Flächenressource für „Häuschen im Grünen“ beansprucht werden, die zwar in Coronazeiten ein beneidenswertes Refugium bilden, aber unsere Umwelt belasten. Um weitere Zersiedelung zu vermeiden, müssen die verfügbaren Flächen deutlich effizienter genutzt werden und der überholte Typus Einfamilienhaus einer neuen multifunktionalen, in jeder Lebensphase nutzbaren Immobilie weichen.

Prof. Dipl.-Ing. Oliver Hall, Architekt und Stadtplaner AKNW, BDA, SRL, ist Mitbegründer und Gesellschafter von ASTOC ARCHITECTS AND PLANNERS GmbH in Köln und seit 2003 Professor für „Stadtplanung und Städtebauliches Entwerfen“ an der TH-OWL. Seine Arbeitsweise ist geprägt durch das Zusammenwirken von Berufspraxis, Forschung und Lehre. Er ist Sprecher und Gründungsmitglied des Forschungsschwerpunkt urbanLab und legt den Fokus in seinen Arbeiten und Vorträgen auf die interdisziplinäre Stadt- und Quartiersforschung.

https://www.th-owl.de/urbanlab