Nachlese
Reihe Vordenker. Christoph Ingenhoven
Supergrün. Positionen zur Zukunft des Bauens.

Supergrün. Ist das wieder einer dieser überoptimalen Wortneuschöpfungen, die mehr über ihre Schöpfer sagen als über die Zustände, die sie beschreiben wollen? Ja und nein. Christoph Ingenhoven greift zum Mikro und entführt die Zuhörer erst mal auf eine Reise um die Welt. Aus der Perspektive der ISS geht es über das nachtleuchtende Italien und das dunkle Mittelmeer. Eine Infografik blitzt auf: Handelsströme werden sichtbar. Der Suezkanal, das Rote Meer, die Arabische Halbinsel. Das Bild des Raumschiffs Erde ist eines, das der Düsseldorfer Architekt benutzt, um eine Vorstellung zu geben von dem, was vor uns liegt: ein Bewusstseinswandel nämlich. Da passt „Supergrün“ als Anspruch, den „footprint“ von Gebäuden zu minimieren, ziemlich gut zu Vordenkern wie Buckminster Fuller oder Adlai Stevenson sowie zu Pionieren, die über den Tellerrand ihres Fachgebiets blickten, um das große Ganze in den Blick zu nehmen. Ingenhoven zählt Frei Otto zu seinen Lehrmeistern, ohne dass er je bei ihm studiert hätte. Ingenhoven lernte bei Hollein. Und schlug ganz andere Wege ein.

„Die ersten 20 Jahre hat uns niemand nach einem grünen Gebäude gefragt“, sagt Christoph Ingenhoven. Inzwischen sei das Thema bei den „Endverbrauchern“ angekommen. Diese entschieden über die Zukunft des Diesels ebenso wie über die Zukunft der Erde, die wir gerade überstrapazierten wie noch nie in der Geschichte des Planeten: Flächenfraß, Energieverschwendung, Nahrungsmittelknappheit – zu all diesen Themen hat Ingenhoven eine Statistik, eine Zahl, einen klugen Vergleich. Rund 18 Prozent der Weltbevölkerung lebten in Großstädten, doch diese stünden für 66 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Das ist so eine Zahl, die etwas klarmacht. Schon nach kurzer Zeit hat man den Eindruck: Dieser Mann hat eine Mission, ohne diese dogmatisch oder ideologisch zu verfolgen. Immer wieder fallen augenzwinkernd Sätze wie „die Leute wollen gar nicht böse sein“ oder: „Wenn man schon so viel Geld ausgibt, sollte es auch Spaß machen.“

Ingenhoven, der begnadete Kommunikator, weiß, wie er sein Publikum gewinnt. Unerwartet schießt er wieder einen Begriff in die Menge wie „Extracurriculär“. Was wie ein Wahlpflichtfach klingt nach Schulschluss, ist tatsächlich eine Grundüberzeugung des Büros. Warum nicht Mehrwert durch das Bauen schaffen, durch eine Passage etwa, ein ungeplantes Atrium für alle, eine großzügige Treppe? Etwas, was ursprünglich gar nicht im Briefing der Auftraggeber stand, eine überraschende Wendung, ein „kostenloses“ Add-On, das nur möglich wird, weil die Architekten an anderer Stelle einsparten.

Architektur hat bei Ingenhoven stets einen Auftrag, der über das Private hinausgeht. Sie ist öffentlich. Sie übernimmt Verantwortung. Und sie steht jenseits der formalen Vorlieben ihrer Baumeister. „Leistungsform“ nennt das Ingenhoven. Schönheit entstehe durch das Notwendige (Das Bild dazu: eine Segeljacht bei einer Regatta, der Satz dazu: „Das Richtige schafft das Schöne“). Auf diese Weise werden schon mal gängige Regeln außer Kraft gesetzt und durch die Form der Fassade thermische Aufwände befördert, um einen Gebäudekomplex natürlich zu belüften – oder gängige Architekturmanierismen kritisch hinterfragt. Warum sollte ein Hochhaus im tropischen Singapur Spiegelglas einsetzen oder blendenweiße Fassaden, wenn diese mit Kolonialismus verbunden sind oder dazu führen, dass Passanten Sonnenbrillen tragen müssen? Ingenhovens Marina One, ein Geviert aus Wohn- und Bürotürmen für über 20.000 Menschen, ist deshalb dunkel und bereits bei der Eröffnung teilweise überwuchert. Der Hochhauskomplex mit seinem grünen Herz gibt der Stadt ein Vielfaches des gesetzlich geforderten Minimums zurück: Atmosphäre, Aufenthaltsqualitäten, angenehme Wege, kurz: ein Stück Öffentlichkeit, ein Stück Natur, ein Stück Gemeinschaft. Energieeffizienz wird mit einem Mal greifbar, sinnlich. Ingenhoven ist überzeugt: „Häuser können immer einen Beitrag leisten.“ Das ginge aber nicht allein. Das bedürfe immer auch der „Liebe des Bauherren, der dazu bereit ist – und dann belohnt wird.“ Das funktioniert nicht nur in Übersee. Demnächst wird in Düsseldorf ein solch begrüntes Gebäude entstehen mit Schrägen wie Weinhänge mitten in der Stadt. Und irgendwann dürfte auch Stuttgart21 fertig werden und der Stadt einen großzügigen Park zurückgeben, durchzogen von Lichtaugen, die Frei Otto entwerfen half.

Dann kommt eine Überraschung: Ein Gebäude essen? So richtig? Und nicht etwa mit der Abrissbirne und dem Presslufthammer in der Hand? Das meint Christoph Ingenhoven auch nicht wörtlich. Und doch gibt er Architekt etwas auf dieses Sprachbild. Letztlich sei die Vorstellung, etwas „cradle to cradle“ zu bauen, also so zu errichten, dass seine Teile auch wieder Teile der Nahrungskette werden könnten, eine „Methode zu lernen.“ Eine ganz besondere Methode, müsste man hinzufügen, denn wenige Architekten haben sich so auf energieeffizientes Bauen eingelassen wie der Düsseldorfer. Seine Gebäude sähen deshalb nach Zukunft aus und nicht nach Hundertwasser, sagte SZ-Journalist Gerhard Matzig über Ingenhoven. Einen Blick auf diese Zukunft konnten rund 230 Gäste im vollbesetzten Kölner MAKK erhaschen.