Schule neu denken

Die Bildungslandschaft Altstadt Nord in Köln ist ein Pilotprojekt. Viele Hände und Köpfe entwerfen hier ein neues Bild von Schule, vielleicht sogar ein neues Bild unserer Gesellschaft: als Konstellationen von Gebäuden, die ein durchlässiges Netz aus Wegen und Möglichkeiten bilden. Eine Betrachtung von Uta Winterhager.
(Bild: Gernot Schulz und Uta Winterhager)

Nach Jahrzehnten der Stagnation bewirkte der Pisa-Schock 2000, dass in Deutschland endlich wieder über Bildung gesprochen wurde, auch in Köln, wo der Schulausschuss die Verwaltung 2006 beauftragte, zukünftig »Kinderhäuser statt Schulkasernen« zu bauen. Als der damalige Schuldezernent Guido Kahlen und der Stifter Carl Richard Montag sich ein Bild der Kölner Schulen machten, fiel insbesondere der marode Zustand der Hauptschule am Gereonswall auf. Rund um den Klingelpützpark befanden sich fünf weitere Jugend- und Bildungseinrichtungen in traurigem Zustand. Dass diese Einzelkämpfer als Verbund – pädagogisch wie baulich neu gedacht – weitaus bessere Zukunftschancen hätten und damit Impulse in den Stadtteil senden könnten, überzeugte, so dass 2007 im Rahmen des Projekts »Bildungslandschaft Altstadt Nord« eine Kooperationsvereinbarung zwischen der Stadt, den Montag Stiftungen und den sechs Einrichtungen geschlossen wurde. Erstmals tauchte damit in Köln auch die Forderung nach einer »Pädagogischen Architektur« auf.

Alles auf Anfang
Das Pilotprojekt BAN erlaubte es, die individuellen Anforderungen aller beteiligten Einrichtungen in einem wissenschaftlich begleiteten Prozess ohne Zeitdruck zu ermitteln, Synergien zu nutzen und gemeinsam mit den Planern individuelle Raumprogramme zu entwickeln. Die sogenannten Phase Null (im Büro- oder Krankenhausbau längst üblich) konnte sich auf Grundlage der mit der BAN gewonnenen Ergebnisse im Kölner Schulbau und darüber hinaus etablieren und dauert in der Regel rund sechs Monate.
Während die einen »bedeutungsvolles Lernen« anmahnten, forderten Anwohner zunächst: »Hände weg vom Klingelpützpark!«. Dabei war nie beabsichtigt, den Park mit der BAN zu schlucken, im Gegenteil: Das umfassenden Bildungs- und Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche soll den überalterten Stadtteil auch für Familien wieder attraktiv machen. Hier wurden alle Mittel der Partizipation ausgeschöpft, um die die Idee der Bildungslandschaft nicht nur im pädagogischen, sondern auch im baulichen Sinne integrativ umsetzen. Ein städtebaulicher Planungsworkshop lieferte 2008 eine Diskussionsgrundlage, in die alle Ergebnisse der Phase Null einflossen. 2013 wurde ein zweiphasiger architektonisch-freiraumplanerischer Wettbewerb ausgelobt, den gernot schulz : architektur, Köln, zusammen mit TOPOTEK 1, Berlin, gewannen.

Schulz Architektur

Alles im Blick
Am westlichen Rand des Klingelpützparks steht eine Gruppe warmgrau verklinkerter Neubauten mit auffällig großen Fenstern. Nach den Sommerferien sollen die ersten Kinder kommen. Mittendrin ein Altbau an dessen Köpfen buntes Glas durch filigranes Betonmaßwerk scheint. Dass es sich um Schulbauten handelt, müssen Besucherinnen erst lernen, es fehlen die Elemente der Ordnung, welche Schule gemeinhin zur Schule machen. Wo sind der Schulhof, der Lehrerparkplatz, die Pausenhalle, die Klassen, die Mensa? Auch zeigt das homogene Bild nicht, dass es sich hier um einen Zusammenschluss aus KiTa, Grundschule, Realschule mit einem gemeinsam genutzten Studienhaus handelt. Und dass zu dieser Gemeinschaft, in der einmal 2.200 Kinder und Jugendliche unterrichtet werden sollen, auch noch ein Abendgymnasium, zwei Jugendeinrichtungen, ein Gymnasium sowie eine Mensa und Werkateliers am anderen Ende des Parks gehören.

BAN entwirft ein neues Bild von Schule, vielleicht sogar ein neues Bild unserer Gesellschaft: als Konstellationen unregelmäßiger Fünfecke. Zwischen den Gebäuden entsteht ein durchlässiges Netz aus Gassen und Aufweitungen, das die Schulbauten untereinander sowie mit Stadt und Park verknüpft. So versteht sich die BAN als Lebensraum, in dem die Schüler sich frei bewegen. Das von allen Einrichtungen genutzt Studienhaus übernimmt in dieser dichten, quasi altstädtischen Struktur, die zentrale Rolle eines Marktplatzes. Seine fünf Fronten bilden im dichten Gefüge immer wieder einen point de vue. Darin liegt die zentrale Bibliothek mit Selbstlernzentrum, die Bücher und Digitales anbietet mit ihren offenen Bereichen zum Recherchieren, Studieren und Debattieren. Es überrascht, wie großzügig die Räume, wie vielfältig die möglichen Nutzungen sind, und wie wenig Wände es brauchte, um sie zu gliedern. Aus der Fußgängerperspektive erschließt sich die Geometrie des Lageplans nicht, aber sie funktioniert – im Großen draußen, wie auch im Kleinen drinnen. Alle sind einander zugewandt.
Die Schulen des Verbands haben den Frontalunterricht im Klassenverband weitgehend durch aktives und selbständiges Lernen im Cluster ersetzt. Die dadurch erzeugte Dynamik erfordert flexible Raumkonstellationen und Transparenz und verschleift die Grenzen zwischen Unterrichts- und Aufenthaltsbereichen.

Alles in eigener Ordnung
Der BAN fehlt die strenge Ordnung konventioneller Schulbauten. Fenster liegen da, wo sie in den Räumen Sinn machen, nicht da, wo das Raster der Fassade sie will. Brüstungen sind niedrig, Blickbeziehungen sind überall möglich. War es früher verboten, auf den Fensterbänken und Treppen zu sitzen, ist es hier Programm. Schülerinnen sollen sich Plätze suchen und besetzen. Denn Klinker, Lärchenholz und Sichtbeton sind solide, echte Baumaterialien, die angefasst werden sollen und die Spuren des Benutzens ertragen können.
Vieles in der BAN wirkt frei gestaltet und doch stellten die Architekten im Entwurf Regeln auf und konnten sich so anderen funktionalen Zwängen entziehen, erklärt Projektleiterin Raphaella Burhenne de Cayres. Zum Beispiel im Umgang mit Farbe: Während außen das Material die Ansichten bestimmt, wurden alle Trockenbauwände mit eingebautem Mobiliar und Fensterrahmen farbig gestrichen. Es gibt sechs aufeinander abgestimmte Farbtöne: Grün (hell/dunkel), Blau (hell/dunkel), Orange und Brombeer, abgeleitet aus Le Corbusiers Farbklaviatur, die jeweils einer Etage zugeordnet wurden. Die Farbe des Erdgeschosses ist die Farbe des Treppengeländers. Alle Bedienelemente, Hinweise und Fußleisten sind einheitlich schwarz, um mit dem größtmöglichen Kontrast zum Untergrund Barrierefreiheit zu gewährleisten.

Alles wird anders
Von der Kita bis zum Abitur bietet die BAN eine lückenlose Bildungskette an. Die fünf Schulen und zwei Jugendeinrichtungen arbeiten mit innovativen pädagogischen Konzepten, schon früh lernen die Kinder und Jugendlichen – ganz unabhängig von der Schulform – selbständig zu lernen. Die Lehrer und Lehrerinnen, sowie die weiteren pädagogischen Kräfte verstehen sich als Teamleiter, klassischen Frontalunterricht gibt es auch, aber selten, viel häufiger arbeiten die Kinder in kleinen Gruppen oder alleine in ihrem Tempo, damit auch die Inklusion gelingen kann. Die offenen Lernlandschaften bieten im adäquaten Maßstab die notwendige Bewegungsfreiheit, um sich aus der großen Gruppe zu lösen, dem Blick der Lehrer aber nie ganz zu entkommen. In jedem Cluster und jedem Gebäude gibt es Schnittstellen, Orte der Begegnung, die auch als Aula oder Bühne genutzt werden können, denn das Miteinander steht im Mittelpunkt der Bildungslandschaft, die sogar noch einen Schritt weiter geht und sich zur Stadt öffnet, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ganz wörtlich ist der Campus durchlässig, einzelne Räume, wie zum Beispiel die Lehrküche können nachmittags auch von Initiativen aus dem Viertel genutzt werden.
Der Schulalltag erscheint oft starr in Anbetracht der Menge des Stoffs, der einer Menge von Schülern in einer immer zu kurzen Zeit vermittelt werden soll. Dass sich vieles ändern kann, wenn es sich ändern muss, hat (lange nach dem Pisa-Schock) die Praxis nach Corona gezeigt. Vieles geht auf einmal, wenn die Situation die Bereitschaft zum Wandel erzwingt.

Bilder: Britta van Hüth