Die mit dem Raum sprechen

Über die Zukunft der Innenarchitektur. Ein Essay von Rudolf Schricker.

In analogen Zeiten schafft unvergängliche Architektur harte Formfakten; stellt meist unveränderliche Rahmenbedingungen für geschmeidige menschliche Lebensentwürfe, die stets anders und eigen sich entwickeln wollen, und doch allzu oft scheitern an Unveränderbarkeit und mangelnder Flexibilität.

Digitalisierung fokussiert neu: Hardware ist mit einem Mal Begleitwerk; Schnittstellen menschlicher Diversität und dinglicher Anwendungs- und Wirkbreite generieren langersehnte Interaktionen individuellen Gestaltungsausdrucks mit sensiblen Materialien und ermöglichen die Synchronisation menschlicher Bedürfnisse mit nachhaltiger, veränderbarer Umgebung. Nicht mehr Menschen müssen sich der gebauten Umgebung anpassen – in symbiotischer Wechselwirkung nehmen Menschen und Räume Rücksicht aufeinander, interagieren und kommunizieren. Raum, in dem Menschen leben, wird zum Sparringspartner und zur „dritten“ Haut, der und die sich ständig verändern und Lebensqualität individuell permanent neu justieren.

Räume, die den Menschen unerschöpfliche Gestaltungsspielräume eröffnen, übertragen Verantwortung über Wechselwirkung angewandter Schnittstellen auf Betroffene selbst. Innenräume, die das Wohlbefinden von Menschen gewährleisten wollen, unterstützen den Willen zum Ausdruck und zur Gestaltung. Ein glücklicher Mensch ist, der selber mit den von Planern zur Verfügung gestellten Mitteln zum Designer wird.

Diese Neuausrichtung des Entwurfsfokus entlässt zahlreiche Planer aus dem grundsätzlichen Dilemma, alles tun zu wollen, damit sich Menschen in der geplanten Welt zurechtfinden können – gleichzeitig jedoch zu wissen, die nach Vollendung des objektiv gebauten Artefaktes Betroffenen gar nicht zu kennen und somit individuelle Bedürfnisse unberücksichtigt lassen zu müssen.

Aktuell wird hängeringend nach Räumen gesucht, die „gesund“ sind und Genesungsprozesse unterstützen. Heilende räumliche Wirkfaktoren werden wissenschaftlich destilliert und ähnlich einem Medikament individuell dosiert und durch vernetzte medizinische KI-Systeme Diagnose- und Therapiesicher verabreicht.

Der Raum, der dritte Arzt

Innenarchitekten entwickeln und planen diese Mensch-Raum-Schnittstellen und ermöglichen analoge und digitale Information und Kommunikation. Raumplaner sind auch Interaktionsdesigner, die Räume als digitale Begleiter konzipieren und die heilsame Wirkung in einem dynamischen Prozess permanenter Anpassung und Feinjustierung jederzeit ermöglichen, auch lange nach der Fertigstellung. Sobald diese neue Form von heilsamer Innenarchitektur gelingt, hat diese lernfähige und sich stets optierende Allianz Mensch-Raum lebenslangen Bestand.

Wahrnehmung und Interaktion generieren Leben im Raum – das eigene und das anderer.

Innenarchitektur ist Lebens-Mittel: Innen … erinnern … verinnerlichen – innere Werte. Es war einmal … das Äußere gibt vor, das Innere folgt. Mittlerweile ist Äußeres meist schon da; Veränderungen beginnen Innen. Es ist … Verantwortung für Allgemeines und Großes – Grundsätzliches und Evidentes. Zukunft jedoch geht jeden an, auf sehr persönliche Weise – individuell und sehr eigenständig.

Deutlich zu spüren – Versprechen des Äußeren wird abgelöst durch Hoffnung auf Inneres. Raum suggeriert Innere Werte – individuell und sehr menschlich. Nach „Evidenz basierten Gestaltungsüberlegungen“, die Grundlagen jeder Norm und allen Standards sind, gesellen sich vermehrt Rollenspiele und ganz eigene und spezielle „Nutzererfahrungen“, die für jeden Einzelnen Einfluss und Veränderung der unmittelbaren Umgebung zulassen (UX-Design).

Innenraum gewinnt immer stärker an Bedeutung als Raum für „Quality Time“, als Erlebnisraum, der Wohlfühlerlebnisse bietet. Anders als andere Disziplinen gesellt Innenarchitektur den rationalen und quantitativen, da berechenbaren Instrumenten der Gestaltung qualitative Komponenten individueller und transkultureller Identitätsfindung hinzu. Menschliches Leben und dessen Interaktion mit umgebendem Raum fordert Flexibilität, Veränderbarkeit und Entscheidungsfreiheit; Reflexion wird gesucht, Machbares getestet; menschlichem Gestaltungswillen bis ans Limit.

Aus enger Kooperation mit Humanwissenschaften sind der Raumgestaltung unendliche viele Argumente, Begründungen und Belege für ihre Sinnhaftigkeit erwachsen. Angewandte Forschung in der Innenarchitektur liefert seither glaubwürdige und von der Wissenschaft unterlegte Belege für steile Thesen: Investitionen in Innenarchitektur sind Investitionen in Menschen – und sie rentieren immer. Menschen können ohne den sie umgebenden Raum nicht leben; werden Räume falsch konzipiert, gerät das Leben vieler aus dem Takt. Wunderbar die Gewissheit, Räume können Menschen auf ganz eigene Weise glücklich machen.

Das Versprechen guter Innenarchitektur

Deutlich zu spüren ist steigende Verantwortung – nicht nur als Treuhänder von Auftraggebern und Minimierung deren wirtschaftlichen Risikos; vielmehr wird deutlich, anders als andere Disziplinen, die sich für das allgemein Große oder das massenweise produzierte Kleine bestenfalls platonisch verantwortlich fühlen, wie sehr in der Steigerung „schöne“, „richtige“ hin zur „guten“ Innenarchitektur auch ein Versprechen lastet, das mit Verstand und Logik allein nicht zu erfüllen ist.

Körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden sind nicht mit Präzision, Perfektion oder gar BIM zu gewährleisten. Digitale Errungenschaften erweisen sich rasch doppelbödig, sobald Anhänger Euklidischer Konstruktionskunst vergeblich nach Antworten suchen auf Fragen wie „gesundheitsfördernder Raum?“, „Raum, der den Menschen Angst nimmt?“, „Raum, der Zuversicht, Hoffnung und Bedeutung vermittelt?“, „Raum zum Leben?“ – wo doch Biologen „Leben“ mit formverändernder Zellteilung und permanentem Stoffwechsel umschreiben.

Das Innere von Architektur demnach in ständiger Veränderung? Nicht wirklich planbar, da nicht vorhersehbar? Innenarchitekten werden sich des Leides und der Schmerzen von Menschen bewusst,die in Raumumgebung vergeblich nach Reflexion ihrer selbst, nach Ausdruckskraft und angewandtem Veränderungswillen suchen.

Innenräume emanzipieren mit humanen Argumenten im Rücken. Gebäude können richtig oder falsch sein, teuer oder billig; Lebensqualität generiert sich unabhängig davon erst in der symbiotischen Beziehung Mensch-Raum.

Anders als die Mutter aller Künste taugt gute Innenarchitektur nicht für die Ewigkeit; Räume ändern sich, weil Leben in Räumen permanentem Wandel unterliegt und letztlich endlich ist. Mag sein, dass die Angst vor dem Tod bei manchem Entwerfer die Sehnsucht nach Unsterblichkeit und damit nach Manifestation keimen lässt; anders als in Architektur sind permanente Veränderung und Dynamik im Ausbalancieren von Erwartungen, Erfahrungen und Bedeutungszuweisung im Innenraum Gestaltungsprinzip: … alles im Fluss und hautnah!“.

Schutzräume schaffen Vertrauen; Ängste werden abgebaut, indem Räume und die Interaktion mit ihnen das jeweilige Eigensein bejahen, Differenzierung lehren, andere einlassen oder verbannen, Phantasie und Wahrnehmung weiten, Machbares erkennen und realisieren, Ausdruck schärfen und Bindung herstellen. Innenraum wird zum Sparringspartner, mit dem sich jeweilige Realitäten ertragen lassen. Räumliche Grenzen erweisen sich durch Interaktion als Stärkung grenzenlosen Gestaltungswillen. Raumnutzer vollenden jeden Tag aufs Neue, jetzt, da sie selber zu Raumgestaltern werden, das, was Innenarchitekten/innen ihnen in Räume und Produkte und anwendende Hände geben.

Der Innenraum als intelligente Oberfläche

Flexibel muss sie also sein, die Innenarchitektur, will sie den individuellen Bedürfnissen genügen. Veränderbar, immer wieder anders, smart eben – Innenarchitekten konditionieren den Raum, lassen Menschen aber mit ihm umgehen und verändern. Interaktion, bilaterales gegenseitiges Beeinflussen – Mensch und Raum – gemeinsam altern sie, gemeinsam verändern sie sich; symbiotisches Gestaltungsprinzip, nicht für die Ewigkeit, für den bewussten Augenblick.

Digitales und Virtuelles kann in Zukunft jede Oberfläche im Innenraum zur intelligenten Oberfläche werden lassen. Verschiedene Bedienfunktionen der Raumkonditionierung sind nahtlos und optisch unauffällig in Innenarchitektur integriert, Informationen jederzeit flexibel abrufbar. Im Innenraum bieten Smart Surfaces vor allem mit Blick auf zukünftige Lösungen einen großen Gestaltungsspielraum. Raum gewinnt an Bedeutung – er wird zum erweiterten Lebensraum. Im Innenraum bieten nahezu allen Flächen die Möglichkeit, Funktionen zu personalisieren. Durch einfaches Berühren werden Oberflächen, die bisher eher dekorative Funktion hatten, zu einer funktionalen, berührungssensitiven Bedienoberfläche, die mit Menschen interagiert oder an seine Bedürfnisse angepasste Effekte aktiviert.

Die neue Technologie ist durch ihre Individualisierbarkeit für Innenraum-Konzepte der Zukunft besonders interessant. Die digitalen Inhalte persönlicher Apps oder eigener mobiler Endgeräte ebenso wie gespeicherte Vorlieben an das Licht- und Raumambiente könnten sich schon beim Betreten des Raumes synchronisieren. So lässt sich ein individuell auf Menschen zugeschnittenes Innenraumerlebnis erzeugen.

Ein Blick in die Zukunft

Läden bieten das, was Online nicht zu erleben ist – Analoges und Digitales arbeiten dabei Hand in Hand; technische Schnelligkeit und räumliche Entschleunigung. Gastronomie bedient Sehnsüchte und Images – Vor- und Nachbetreuung per Homepage und App; Die Liebe geht durch den Magen trotz Kalorienzähler am Armband;

Hotellerie macht den Alltag vergessen – Suchmaschinen und Userbewertungen sind bewährte Begleiter geworden; Verhalten im fremden Hotel sollte eher stressfrei sein und den Blutdruck nicht in die Höhe treiben.

Kliniken wandeln sich zu Genesungstempeln – mit angenehm wirksamer, jedoch virtueller Medizin – in denen Zeit „geschenkt“ statt geraubt wird und Entspannung oberstes atmosphärisches Ziel zu sein scheint;

Büros stellen Motivation, Wohlbefinden und Lust auf Leistung auf eine Stufe – Bedingung ist Network und Aufgabe persönlicher Interessen außerhalb der Unternehmen;

Kitas vermitteln altersgerechte Entwicklungsschübe mit sensorgesteuerter Einrichtung und studierten Erzieherinnen und scheitern letztlich doch am hohen Anspruch der Eltern und an unterentwickelter Beziehungsfähigkeit der Kinder.

Altenheime sind wahre Jungbrunnen mittels Pflegerobotern und Ambient Assisted Living System; man wünscht sich annähernd tiefe Bemühungen und Gestaltungsgedanken für das noch tabuisierte Thema „Sterben“ – Marketingbotschaften unterstellen moderner Innenarchitektur schiere Wunderkräfte – digitale, technische wohlgemerkt.

 

Richtig tolle Innenräume werden aber erst „gut“, sobald sie das Vertrauen von darin lebenden Menschen gewinnen. Leben in Räumen ist vielfältig, aus der Sicht der darin Lebenden ist es ihr eigenes und aus der Sicht der Planer ist es immer das Leben der Anderen.

Wahr ist: kaum eine andere Disziplin wird mit Sehnsüchten und Hoffnungen so überfrachtet wie Innenarchitektur. Wahr ist aber auch, dass andere Disziplinen all diese zu tiefst menschlichen Ansprüche nicht mehr erfüllen können bzw. erst gar nicht mehr als Problemlöser in Frage kommen. Innenarchitektur dagegen muss aufpassen, dass es glaubwürdige und ernsthafte Lösungen immer im humanen Kontext findet und eben nicht zum Erfüllungsgehilfen des digital Machbaren wird. Humane Innenarchitektur funktioniert auch bei Stromausfall.

Prof. Rudolf Schricker
Dipl.Ing. Innenarchitekt BDIA
Stuttgart Coburg