Wie wir Zukunft sichern
Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, über den Weg zu einer neuen Umbaukultur. Ein Weckruf für Planer und Architekten, Ingenieure, Unternehmen der Bau-, Immobilien- und Wohnungswirtschaft.
Zukunft ist keine auf uns zukommende große Unbekannte. Zukunft ist in erster Linie eine Gestaltungsoption. Dabei sind aus Sicht der gebauten Umwelt drei Dinge entscheidend. Wir müssen zuerst diejenigen Gebäude weiterentwickeln, die wir bereits haben:
Durch kluges Weiter-, An- und Umbauen lassen sich Ressourcen schonen und bestehende Stadtbilder vielfältig und interessant ergänzen.
Wo es keine Alternative zum Neubau gibt, ist zweitens klimagerechtes Handeln mit umweltschonenden, wiederverwertbaren Materialien und kontextueller Gestaltung gefragt.
Drittens müssen wir unsere Infrastrukturen, Plätze und weiteren öffentlichen Räume immer wieder auf Ihre Funktionalität, ihren Zustand und ihre Gestaltung überprüfen. Denn die öffentlichen Räume bilden das physische Rückgrat unserer Gesellschaft.
Die Stadt der Zukunft ist nichts, das völlig neu erfunden wird: Baulich existiert sie größtenteils schon heute. Der Neubau, der hierzulande im kommenden Jahrzehnt entsteht, wird maximal rund acht Prozent des Gesamtbestands im Jahr 2030 ausmachen. Umso wichtiger ist es heute, sich den bereits vorhandenen Gebäuden und gebauten Räumen zu widmen – und zwar nicht nur den denkmalgeschützten und besonders erhaltenswerten, sondern den Alltagsbauten und Alltagsräumen – durch energetische Sanierung, funktionale Anpassung, etwa an demografische und klimatische Veränderungen sowie gestalterische Verbesserungen. Der Umgang mit dem gebauten Bestand wird die entscheidende Auswirkung auf die Städte von morgen haben.
Lob des Alltagsbaus
Alltagsbauten gelten als Zweckarchitektur ohne besonderen funktionalen oder baukünstlerischen Anspruch. Das heißt aber nicht, dass sie aus baukultureller Sicht bedeutungslos sind. Denn Alltagsbauten sind Wohnorte, Arbeitsplätze und Freizeitorte und tägliche Sozialräume der dort lebenden Menschen. Sie in ihrer Weise ortsbildprägend und teilweise charaktervoll, auch wenn sie nicht unter Denkmalschutz stehen. Bestehende Bauwerke vermitteln ein Gefühl von Heimat. Diese immateriellen Werte bleiben bei betriebswirtschaftlicher Betrachtung der Frage nach Abriss und Neubau versus Sanierung oder Umbau heute fast immer unberücksichtigt.
Zukunft braucht Ressourcenschutz
Vorhandene Alltagsbauten binden zudem wertvolle Ressourcen in Form eingesetzter Baumaterialien und der damit gebundenen grauen Energie. Das ist diejenige Energie, die in verbauten Baustoffen gebunden ist, vom Material über den Transport bis hin zum eigentlichen Bauen. Der geringere Einsatz von Primärenergie und der Erhalt vorhandener graue Energie ist bei der Sanierung von Bestandsgebäuden der entscheidende Faktor für eine häufig sehr viel bessere Energiebilanz, als ein Neubau selbst als Passivhaus sie erreichen kann.
Bereits heute kommen auf jeden Bundesbürger rund 363 Tonnen verbautes Material in Gebäuden und Infrastrukturen. Das entspricht dem Gewicht zweier Jumbojets oder eines vollbesetzten ICE, wohlgemerkt pro Person!
Gleichzeitig werden hierzulande pro Jahr 517 Millionen Tonnen an mineralischen Rohstoffen – Metalle, Industrieminerale, Steine und Erden – verbraucht, davon 90 Prozent im Bausektor. Die Branche produziert zudem mehr als die Hälfte des gesamten Abfalls.
Damit nimmt das Bauwesen eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung von Ressourceneffizienz und Klimaschutz ein. Den Herausforderungen müssen sich alle Akteure entlang der gesamten Wertschöpfungskette stellen: Planer und Architekten, Ingenieure, Unternehmen der Bau-, Immobilien- und Wohnungswirtschaft. Dieser Auffassung folgte auch die diesjährige Resolution des Ettersburger Gespräches der Bundesstiftung Baukultur, verbunden mit der Aufforderung an die Politik, entsprechend verlässliche Rahmenbedingung zu setzen.
Umbau vor Abriss
Anstatt immer neue Rohstoffe für neue Gebäude abzubauen, sollten wir vorhandene Bauwerke besser nutzen. Abriss sollte aus baukultureller Sicht die Ausnahme sein, sie ist deutschlandweit aber eher die Regel: 64 Prozent der Kommunen geben in einer Umfrage im Auftrag der Bundesstiftung an, in den letzten fünf Jahren Gebäude aufgrund unpassender Grundrisse oder Gebäudezuschnitte, abgerissen zu haben. 47 Prozent schätzen, dass der Abriss aufgrund von Investorendruck erfolgt ist, also wegen scheinbar oder tatsächlich problematischer Flächeneffizienz, oder weil Neubau einfacher ist als Umbau. In einigen Fällen ist diese Entscheidung sicher sachgerecht, besonders, wenn sie auf abgewogenen Voruntersuchungen in der sogenannten Phase Null basiert.
Neubau verträglich gestalten
Wo Neubau alternativlos ist, muss dies mit nachhaltigen Baustoffen geschehen, die in ihre Bestandteile zerlegbar und wiederverwertbar sind. Eine nachhaltige Idee zur Schonung von Rohstoffen ist das »Urban Mining«: Bereits verbaute Materialien werden im Zuge eines unvermeidbaren Abrisses als Sekundärrohstoffe genutzt. Dadurch reduziert sich die Inanspruchnahme von Primärrohstoffen. Aus Sicht der Baukultur steckt in der Wiederverwendung bereits genutzter Baustoffe eine Chance, den regionaltypischen Charakter von Städten weiter zu entwickeln.
Gute Gestaltung entsteht am ehesten in der Auseinandersetzung mit dem Bestand, also integrierten Lagen. Hier müssen sich Bauvorhaben als neue Zeitschicht sinnvoll, bereichernd, bedarfs- und nutzergerecht in die vorhandene Ortsstruktur einfügen.
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Erreicht werden kann das, indem ortstypische Materialien verwendet werden, die Farbgebung des Umfelds aufgenommen wird, oder sich das Gebäude in seinen Maßen und Proportionen in die bereits vorhandene Bebauung harmonisch einfügt. Damit ist keinesfalls ein unreflektierter Historismus gemeint. Vielmehr geht es um ein selbstbewusstes Eingehen auf den Bestand, der Inspirationsquelle für eine eigenständige Architekturhaltung sein kann, sich dabei aber auch selber bewegen muss.
Öffentliche Räume stärken
Was für Gebäude gilt, trifft in ähnlicher Weise für die öffentlichen Räume zu. Im Sinne einer neuen Umbaukultur geht es auch bei Parks, Plätzen, Infrastrukturen und Freiräumen verstärkt darum, sie aufgrund der stetigen Nachverdichtung der Städte immer wieder auf Ihre Funktionalität, ihren Zustand und ihre Gestaltung zu überprüfen und an aktuelle Bedarfe und Herausforderungen anzupassen.
Wie jüngst die Auswirkungen der Coronamaßnahmen zeigen, sind öffentliche Räume mit Ihrem Angebot an Parks und Grünflächen äußerst wichtig für Gesundheit und Erholung: Wo sich das Leben auf einen überschaubaren Radius rund um das Zuhause reduziert, gewinnen das gemischte Quartier und gut zu erreichende innerstädtische Grünflächen, Parks und Gärten an Bedeutung – insbesondere für diejenigen, die ohne Balkon, Terrasse oder eigenen Garten auskommen müssen.
Gleichzeitig wirken öffentliche Räume entscheidend auf den Handlungsebenen Klimaschutz und Klimafolgenanpassung: Sie können – entsprechend ausgerüstet – entscheidend dazu beitragen, um etwa Phänomene wie Hitzestress zu lindern oder Starkregen aufzunehmen.
Auf städtebaulicher wie gestalterischer Ebene lohnt es, Funktionen und Nutzungen öffentlicher Räume nicht neben-, sondern miteinander zu betrachten: Um Flächen für die Allgemeinheit zu gewinnen, wird es unumgänglich sein, funktionale und zeitliche Vorgaben zu hinterfragen und nötigenfalls zu revidieren. Unterschiedliche Interessen und sich wandelnde Anforderungen können so flexibel berücksichtigt werden. Sportflächen und Sportanlagen etwa sollten unterschiedliche Nutzungen erlauben. Auch Schulhöfe und -gebäude bergen immenses Potenzial für öffentliche Nutzungen jenseits des Schulbetriebs – einmal abgesehen von der derzeitigen Ausnahmesituation.
Mobilität neu denken
Mit Blick auf die Mobilität zeigt sich Corona hingegen als Innovationsbeschleuniger: Allerorten wurden kurzfristig neue Radspuren eingerichtet, werden Straßen für Fußgänger- und Fahrradverkehr freigegeben. Diese Entwicklungen zu einer nutzergerechten Neuaufteilung der Verkehrsflächen sind auch abseits von Corona wünschenswert: Verkehrsräume, die für Kinder, ältere und beeinträchtigte Menschen gleichermaßen funktionieren, kommen der ganzen Gesellschaft zugute und haben hohe baukulturelle Qualität.
Auch technische Infrastrukturen und Ingenieurbauwerke sind integrale Bestandteile öffentlicher Räume. Stadtmobiliar, öffentliche Beleuchtung und Beschilderung prägen das Ortsbild. Ob sich neue Systeme der Mobilität oder Stadttechnik eignen, dafür ist letztlich die Raumverträglichkeit ausschlaggebend und nicht umgekehrt. Daher ist es wichtig, auch auf diese Themen ein besonderes Augenmerk zu legen – durch eine ganzheitliche Betrachtung in verwaltungsübergreifender Zusammenarbeit.
Wo also die öffentlichen Räume sorgfältig und mit Priorität behandelt werden, die Bestands- und Innenentwicklung im Fokus steht, und wo Neubauvorhaben unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit und mit guter Gestaltung realisiert werden, da befinden wir uns auf einem guten Weg zu einer neuen Umbaukultur.