Wir sind alle vereint
Michele de Lucchi über Corona, die Biennale
und die Zukunft der Menschheit.

Wie geht es Ihnen? Und Ihrer Familie?
Gut. Wir können nicht vor die Tür gehen, aber ich habe das große Glück, auf dem Land zu leben. Wenigstens kann ich im Garten spazieren gehen. Abgesehen davon ist es sehr frustrierend, niemanden zu sehen und immer per Computer zu arbeiten. Aber ich beklage mich nicht. Ich lese und studiere.

Zeichnen Sie im Moment auch viel?
Ich mache viele Skizzen. Ich schneide A4-Blätter in vier Teile, um Papier zu sparen. Jedes Teil wird eine Zeichnung – so kann ich viel mehr skizzieren. Ich fühle mich viel besser, wenn ich Papier sparen kann, denn es ist frustrierend, keines mehr zu haben.

Ich würde diese Zeichnungen jetzt gerne sehen. Sind sie anders?
In gewisser Weise ja, denn ich kann nicht alle gewohnten Werkzeuge benutzen, Gouache und Aquarellfarben. Jetzt benutze ich viel Bleistift.

Was genau lesen Sie?
Fast alles zu Quantenphysik. Besonders David Bohm. Kennen Sie diesen Mann? (Michele de Lucchi hält ein Buch hoch, David Bohm: Wholeness and the Implicate Order). Ich bin sicher, Sie würden ihn mögen. Bohm war einer der ersten Quantenphysiker. Das ist ein fantastisches Buch. Was im Inneren des Atomkerns geschieht, ist völlig chaotisch und ohne verständliche Regeln. Alle Teilchen bewegen sich ohne Ziel. Das ist der Grund, warum sie zum Verständnis der Quantenphysik die Wahrscheinlichkeitsrechnung nutzten.

Und Bohm?
David Bohm schuf das Konzept der impliziten Ordnung. Das bedeutet: Die Teilchen bewegen sich völlig frei, aber im Inneren gibt es eine so genannte Quantenkraft, die über die Integrität des universellen Aspekts der Welt entscheidet. Es ist gewissermaßen eine Philosophie, die Idee der implizierten Ordnung mit der Gesellschaft zu verbinden. Alle Individuen müssen frei bleiben, nicht aus egoistischen Gründen, sondern zum Vorteil der Gesellschaft. Das ist eine schöne Idee für heute. Denn es ist wirklich der Moment, um zu sagen, okay, wir sind frei, und jetzt haben wir solche Katastrophen und Viren. Wir wissen nicht, was wir von der Zukunft zu erwarten haben, aber wir müssen diesen großen Schatz, unsere Freiheit, unsere individuelle Freiheit, bewahren. Das wahre Ziel von allem ist die Sicherheit und das Überleben der gesamten Menschheit.

Michele de Lucchi – Foto: Giovanni Gastel

Sind diese Zeiten denn besonders gefährlich?
Nicht mehr oder weniger als früher. Viele Philosophen und Wissenschaftler haben gewarnt, dass etwas passieren könnte. Und es ist geschehen. Zum Glück ist es nicht so schrecklich, verglichen mit einigen historischen Pandemien. Die Menschheit wird überleben und hoffentlich ein wenig weiser und bewusster werden.

Bei unserem letzten Treffen hielten Sie einen Vortrag über »Earth Stations«. Hat sich Ihr Projekt weiterentwickelt?
Im Moment entwickle ich das Konzept der »Education Stations«, in deren Mittelpunkt die Idee der sozialen Nachhaltigkeit steht. Alle Konzepte von Bohm werde ich dort anwenden, es ist eine wunderbare Theorie. Sie wird helfen zu verstehen, was es bedeutet, Zeit und Mühe in die Bildung zu investieren. Bildung ist die wichtigste Aktivität, die wir fördern können. Die neue Generation muss viel verantwortungsbewusster sein, als wir es waren. Meine Generation war sich der Gefahren bewusst, aber wir waren nicht sehr effizient. Die neue Generation muss viel effizienter sein. Es geht darum, so viele Menschen wie möglich auf dem Planeten überleben zu lassen. Wir müssen einen Weg finden, dass alle überleben. Das eigentliche Thema ist: Wie können wir in einem solchen Klima mit begrenzten Ressourcen überleben, wenn wir so viele sind?

Geht es um die Frage, wie wir mit Wachstum umgehen?
Pandemie hin oder her, wir wachsen kontinuierlich. Die Zahl der Menschen auf dem Planeten wird weiter wachsen. In Zukunft wird es noch schlimmer werden. Wenn wir – alle zusammen – nicht verstehen, dass dies ein Thema ist, das man berechnen und ausbalancieren muss, werden wir nicht überleben. Es ist ein schöner Moment, um das Konzept der Ausrichtung zu verstehen. Wir müssen Menschen und Ressourcen in Einklang bringen.

Ist dies Ihre Aufgabe?
Ja. Wir werden die »Education Stations« auf der Biennale von Venedig präsentieren. Dieses Jahr findet sie Ende August statt. Sie haben uns den Pavillon von Venedig angeboten. Der August dürfte der erste mögliche Zeitpunkt ohne Einschränkungen sein – und es wird eine gute Zeit sein, über »Earth Stations« zu sprechen und zu zeigen, dass Architektur eine Verantwortung und eine Rolle bei der Frage hat, wie wir auf dem Planeten überleben.

Bamboo Station

Log Station

Terracotta Station

Bark Station

Clay Station

Glauben Sie, dass die Biennale tatsächlich stattfinden wird?
Ja, sie wird am 29. August stattfinden. Der Zeitplan, den wir jetzt haben, lautet: Im April bleiben wir zu Hause, im Mai gehen wir mit einigen Einschränkungen wieder an die Arbeit und sind dann hoffentlich fast wieder frei. Im Juni und Juli werden wir wieder aktiv sein. Wahrscheinlich werden wir im August nicht die traditionellen italienischen Feiertage haben. Und im September werden wir wieder anfangen, wir hoffen auf eine Impfung im Oktober. Ich muss sagen, ich bin auf jeden Fall optimistisch. Es wird ein großes Geldproblem geben. Aber Geld ist, wie Sie wissen, nur Geld. Wichtig ist, dass man ernsthaft, zuverlässig, ehrlich und verantwortungsbewusst ist. Und Vertrauen hat. Das ist wichtig.

Wir müssen, wie Sie vorhin sagten, auf einer Linie sein. Wir sind alle verbunden.
Es gibt einen schönen Spruch von Seneca: Wir sind Wellen desselben Meeres, wir sind Blätter desselben Baumes, wir sind Blumen desselben Gartens.

Was ist die größte Notwendigkeit heute, da wir alles zu besitzen scheinen?
Für manche Menschen haben wir jede Menge Güter, aber es fehlt am Zusammenhalt. Das ist der größte Schritt: Eine Mentalität zu finden nicht für unser individuelles Wohlbefinden, sondern zum Wohle aller Menschen.

Deshalb haben Sie überhaupt so etwas wie »Earth Stations« gemacht. Sie wollen Veränderung.
Ganz genau. Das ist mein bescheidener Beitrag, aber ich hoffe, dass es jemandem gelingt, sich inspirieren zu lassen und etwas Nützlicheres, Anwendbareres und Effizienteres daraus zu machen.

Haben Sie jemanden Bestimmtes im Sinn?
Ja. Wie Sie wissen, habe ich den Namen meines Büros in Mailand geändert. Es heißt jetzt »Circle«, und daran sind Menschen aus vielen Disziplinen beteiligt: Anthropologen, Ärzte, Mediziner, Mathematiker … denn ich glaube, dass der Schritt, der vor uns liegt, so groß ist, dass er von der gesamten Gemeinschaft gemacht werden muss, nicht von einer Person allein. Wie David Bohm es formulierte: Die wichtigste Aktivität ist der Dialog, das Verstehen, was in unserem Geist und in den Köpfen aller Menschen gemeinsam ist.

Sie scheinen also immer noch ziemlich optimistisch, solange wir in Kontakt bleiben.
Ja, der letzte Tag ist noch nicht gekommen … Be safe, be wise, be strong!

TOLOMEO, MICHELE DE LUCCHI
WIE DIE WOHL BEKANNTESTE LEUCHTE DER WELT ENTSTAND