Form Follows Complexity
Stadtplaner Michael Ziller über die mobile Zukunft, intelligente Städte und qualitätvolle Orte: Warum es gerade jetzt wichtig ist, Visionen und Ansprüche zu formulieren.
»Wir sollten die Architekten unserer Zukunft sein, nicht ihre Opfer.«
– Richard Buckminster Fuller
Osterbrookhöfe Hamburg, zillerplus Architekten und Stadtplaner GmbH
Durch die einschneidenden Veränderungen in unserem Leben im Shutdown sehen wir die Welt mit anderen Augen. Wollen wir wirklich das, was vorher war? Wollen wir wieder dahin zurück? Oder ergreifen wir die Chance, das mit der »Shutdown-Brille« sichtbar gemachte Gute beizubehalten und das vorher schon Fragwürdige zu ändern? Ich sehe das mit den Augen des Stadtplaners.
Wie begreifen wir die Stadt? Zuerst einmal als komplexe Überlagerung von Strukturen und räumlicher Nähe von verschiedenen Nutzungen. Also die Kernidee, welche die Stadt vom Land unterscheidet und die ihr wahres Potential darstellt. Nach der Veränderung der Städte durch den Zuzug aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung nach 1860, den Folgen der funktionalen Trennung der Stadt durch die Charta von Athen nach 1930 und der Mobilisierung des autogerechten Ausbaus nach 1950 folgt nun die Digitalisierung. Damit geht eine Neubewertung der Mobilität einher: mehr entlokalisierte Arbeit, mehr Beteiligung der Bürger und begrenzte Bodenressourcen.
Wohnen, Mobilität und digitale Arbeit verknüpfen
Jetzt haben wir die Chance, die Spuren der Funktionstrennung der Moderne endgültig zu schleifen: Die Mobilität und die Funktionen der Stadt neu verknüpfen, die Baunutzungsverordnung mit den begleitenden Vorschriften anpassen und vor allem die Gebietskategorien aufgeben, um hybride Strukturen und Gebäude zu fördern. Damit behandeln wir die einzelnen Viertel genauso (wichtig) wie den Stadtkern und schaffen neue Chancen. Die Kunst und die Kultur sind dabei Katalysator und Ideengeber. Wir nehmen derzeit verstärkt wahr, wie die funktionale Trennung und Entmischung zu einer Vereinfachung geführt hat, welche auch die gestalterische Komplexität berührt und aus der wiederum eine ästhetische Dürftigkeit folgt. Lasst uns also Mobilität, Wohnen, Freizeit und Arbeit im Stadtviertel und in den Gebäuden vereint denken und die Digitalisierung dabei einflechten, um so wieder zu einer komplexen Struktur und Ästhetik zu finden.
Shutdown und Ausgangsbeschränkung haben uns gezeigt, wie flexibel und schnell wir in Deutschland reagieren können. Wir Alle verfolgten aufmerksam, wie schnell sich Gesundheitswesen, Arbeit und Versorgung veränderten. Das sollten wir als Qualität annehmen. Wir schöpfen Mut, dass die geschliffenere Wahrnehmung der Dinge auch zu einem hohen Veränderungswunsch führt: Unwichtiges über Bord zu werfen und bewusst positive Wahrnehmungen aufzuwerten. Die Pandemie zeigt uns: Keiner kann entfliehen, auch wenn die Ausgangsbasis verschieden ist. Aus der gemeinsamen Wahrnehmung ergibt sich die beneidenswerte Möglichkeit, das Gewohnte zu hinterfragen und einen Paradigmenwechsel vorzunehmen. Wir stehen damit vor einem Handlungs-, keinem Wissensproblem. Das meiste ist schon da, wir müssen es nur zu Ende denken, vernetzen und auch sinnvoll nutzen.
Mobilität als Dienstleistung denken
Mobilität ist ein Kulturgut, Wohnen ein Grundrecht. Beides soll uns dienen und nicht regieren. Mobilität ist dann besonders wertvoll, wenn sie in allen Punkten ihrer Komplexität zu Ende gedacht ist. Darin ähnelt sie guter Architektur, die sich in der Stadt vernetzt. Konzerne sehen Mobilität aber immer noch individuell. Das Auto ist in seiner derzeitigen Prägung vor allem emotional und nicht logisch begründet.
Wie wäre es mit einem anderen gesellschaftlichen Szenario: Mehr Mobilität mit weniger Verkehr? Mehr Bewegung als Stillstand? Mehr Service im öffentlichen Verkehr? Mobilität für jeden im Sinne des Access-Prinzips: »Nutzen statt besitzen«? Der öffentliche Transport wird dichter getaktet, individualisierter, ökologischer, sicherer und vernetzter. Kleinere Verkehrseinheiten bei Bahn, Bus und Tram, takten höher und sind mit einem Leitsystem digital vernetzt. Eine App macht unsere mobile Umgebung sichtbar und konfiguriert den Weg vom Start zum Ziel. Sie bezieht einen spannenden Fußweg ebenso ein wie ein Leihfahrrad am Weg. So können wir den Begriff »Smart« mit mehr Qualität für alle füllen. Autokonzerne und Autohäuser werden zu Mobilitäts-Dienstleistern und unsere jetzigen PKW zu musealen Sportgeräten. Die Politik müsste langfristige Ziele formulieren und Anreize für die Transformation der Wirtschaft geben. Und schon führt die Verkehrswende weg von einer reinen Antriebsdiskussion zu einer qualitativen und ökologischen Strukturdiskussion. Und Deutschland könnte mit viel Geist führend in der Welt der Mobilität bleiben, ohne Arbeitsplätze zu verlieren.
Raum gemeinsam nutzen und fair aufteilen
Wie wichtig die Qualität des persönlichen Umfeldes und dessen Freiräume sind, haben die Kontaktbeschränkungen in der Corona-Krise gezeigt. Wir haben uns viel im engeren Sozialraum aufgehalten und damit in dem Raum, der uns baukulturell prägt: der Wohnung. Hier betreiben wir nun oft auch ein Home-Office und Sport, betreuen die Kinder. Dazu kommen die öffentlichen Räume für Spaziergänge und Sport, das direkte Umfeld des Quartiers zur Nahversorgung. Was haben wir nicht alles entdeckt in letzter Zeit?
Doch es fehlt das Gespräch am Straßenrand oder im Laden, der direkte Austausch von Geld, Waren und Information. Diese Situation schafft ein gesteigertes Bewusstsein für die Umwelt und die Möglichkeit, ein inneres Bild der Welt von Morgen zu bekommen, zu agieren anstatt zu reagieren. Es geht um Qualitäten, die sich (hoffentlich) durchsetzen. In der Wohnung gewinnt die räumliche Struktur an Bedeutung: Verkehrsflächen sind in Zukunft minimiert oder so groß, dass sie zum Beispiel für Heimarbeitsplätze genutzt werden können, die Fenster sind von der Wohnung nach außen gedacht und die Möblierung orientiert sich konsequent in Richtung der Öffnungen. Ebenso wichtig ist der private Freiraum mit ruhigen Balkonen und Loggien sowie der gemeinschaftliche Hof. Die Wohnhäuser und Fassaden werden stärker von dieser Seite aus entworfen. Auch die Aufenthaltsqualität der Erschließung von Häusern bekommt wieder mehr Bedeutung: für den Austausch mit den Nachbarn oder über gemeinschaftliche Räume etwa für Home-Office oder Kinderbetreuung.
Im öffentlichen Raum hilft uns die oben beschriebene Strukturwende der Mobilität: Raum gemeinsam nutzen und fair aufteilen. Ein gleichberechtigtes Nebeneinander, ein Integrieren von Spielen, Freizeitnutzung, öffentlichem Verkehr, Radfahrern und Fußgängern sowie – noch – dem privaten Fahrzeug. Bei Konflikten sollten wir den Gewinn an Aufenthaltsqualität und Atmosphäre sowie eine vielfältige Nutzung als Entscheidungskriterien wählen. Die Erfahrung zeigt, dass dabei sogar neue Flächen entstehen: Über Parkplätzen sind Nutzungen wie Wohnen oder Sportflächen möglich, durch die effiziente Arrondierung der Mobilitätsflächen bleibt ein Grundstück für Wohnen, Pocket Parks oder gemeinschaftliche Nutzungen übrig, Flächentausch ermöglicht effizientere Grundstücksnutzung.
In Zukunft ist Verdichtung der Stadt nur bei gleichzeitiger Schaffung von Qualität für die Menschen vor Ort möglich. Diese hängt vorrangig von der Art und Güte der Mobilität ab. Wir – und erst recht die nachwachsende Generation – nehmen nicht mehr hin, dass der öffentliche Raum von Parksuchverkehr und abgestellten Autos geprägt ist. Laute und Schadstoff emittierende Fahrzeuge sind nicht mehr zeitgemäß.
Digitalisierung richtig nutzen
Der Umbau der Mobilität betrifft den öffentlichen Raum und damit die gesamte Gesellschaft. Im besten Falle entsteht das kollektive Bewusstsein, dass ein Umdenken verschiedene Nutzungen dicht nebeneinander wieder ermöglicht: also Stadt und Lebensqualität im klassischen Sinn. Funktionierende Fernarbeit (Home- oder Remote-Working) und Videokonferenzen sind ein Anfang. Die freiere Einteilung von Arbeitszeit und -ort ist ein Luxus, der grenzenlose Mobilität in Frage stellt. Auch wenn das nicht für alle Arbeitsplätze anwendbar ist, hat der Shutdown vor Augen geführt, was kurzfristig möglich sein kann.
Die Digitalisierung befindet sich noch in der Entwicklungsphase. Wenn wir die elektronischen Medien bewusst zum Effizienzgewinn nutzen und dadurch vor allem Wege reduzieren und die Anwesenheiten zu Hause, unterwegs und in der Arbeit flexibler gestalten, bietet die digitale Vernetzung innerhalb der Smart-City viele Möglichkeiten, Räume wieder bewusster zu benutzen und auch zu gestalten. Dies ist eine grenzüberschreitende Chance für Europa und die Welt.
Nun sind Architektur und Städtebau im Gegensatz zur Digitalisierung beabsichtigt langsame Disziplinen. Gerade das können wir uns für die Qualitätssteigerung des Umfeldes und der angestrebten Komplexität der Gestaltung zu Nutze machen. Die Zukunft wird zeigen, wie wir als Gesellschaft gemeinschaftliche Qualitäten, die wir schätzen, diskutieren, abwägen und umsetzten. Wir sollten uns dabei den Bestand im Auge haben. In der Moderne haben wir an vielen Stellen das aufgegeben, was die gewachsene europäische Stadt ausmacht: die kleinteilige Nutzungsmischung in den Quartieren, hybride Gebäude, gemischt nutzbare Erdgeschosszonen und komplexe und vielfältige Gestaltung. An diese vorhandenen Strukturen können wir bei unserer weiteren Entwicklung und Vernetzung anknüpfen.
Die Unsicherheit der Krise hat aufgezeigt, dass sich die Politik in Deutschland verstärkt Expertenmeinungen eingeholt hat und damit bisher recht gut gefahren ist. Die Expertise der Stadtplaner und Architekten ist vorhanden.