Soziale Stadt
Nachhaltig, kollaborativ und gemeinwohlorientiert

In Krisenzeiten zeigt sich die Handlungsfähigkeit der Politik und der wahre Charakter der Menschen. Spätestens jetzt muss das Pendel eindeutig zum Wohle der Gesellschaft, der Umwelt und der sozial Schwächeren ausschlagen. Der Sportartikelhersteller Adidas bekam gerade zu spüren, wie das Gerechtigkeitsempfinden der Gesellschaft in Zeiten der Krise tickt: Angesichts der Ankündigung, keine Mieten mehr für die wegen Corona geschlossenen Läden zahlen zu wollen, gab es einen Shitstorm der Entrüstung und Boykott-Aufrufe. Der Konzern musste zurückrudern und sich öffentlich entschuldigen. Wir BürgerInnen können den Lauf der Dinge beeinflussen! Weg vom überflüssigen Konsum, hin zu mehr Solidarität und sozialer Gerechtigkeit. Das Innehalten angesichts der Krise verändert Werte. Darin liegt eine große Chance für die zukünftige Entwicklung.

Konkret auf die planende Zunft und die gebaute Umwelt bezogen bedeutet das, bei der richtigen Agenda »reduce, reuse, recycle« des deutschen Beitrags der Architekturbiennale 2012 nicht nachzulassen und das Thema Ressourcenschutz im Jahr 2020 mit dem Fokus Gemeinwohl zu verbinden. 

• Ab sofort darf nichts mehr abgerissen werden, außer es ist umweltschädlich und asozial.

• Sanieren geht vor Neubau.

• Umgebaut und weitergebaut werden darf nur noch umweltgerecht und für bezahlbare Mieten.

• Neu gebaut werden darf nur noch, wer damit mehr Raum für die Schwächeren in unserer Gesellschaft schafft und dabei CO2 spart.

Im Baugesetzbuch (BauGB), aber auch in den Bauordnungen der Länder, müssen die Weichen für eine soziale Stadt gestellt werden – ökologisch und ökonomisch ausgewogen, sozial gerecht. Die Kommission Nachhaltiges Bauen (KNBau) am Umweltbundesamt forderte deshalb beispielsweise in ihren Empfehlungen, die allgemeinen Anforderungen in § 3 der Musterbauordnung durch die Aufnahme des Nachhaltigkeitsprinzips zu ergänzen. Dies könnte in Anlehnung an die Leitvorstellung einer nachhaltigen Raumordnung geschehen, die bereits jetzt »die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang« bringt. Andere Beispiele wären der § 31 BauGB, bei dem Spielräume nach dem Neuköllner Modell für mietpreis- und belegungsgebundenen Wohnraum ausgenutzt, oder der § 34, bei dem soziale Aspekte bei der planungsrechtlichen Beurteilung gefordert werden können.

Städte und Gemeinden gewinnen, wenn sie die Krise zum Umsteuern nutzen und sich dabei auf Transformationsschwerpunkte konzentrieren, die Einfluss auf soziale Stadtentwicklung haben:

• kreative Verwaltung und transparente Liegenschaftspolitik,

• anbieterneutrale Digitalisierung, kollaborativ und gemeinwohlorientiert,

• Umweltschutz und Klimaanpassung,

• Stärkung kultureller Identitäten und öffentlicher Orte,

• Subsidiarität und Empowerment.

Mit dem Monitoring Soziale Stadtentwicklung (MSS) gibt es in Berlin seit 1998 ein bewährtes Instrument der Raumbeobachtung und der Stadtentwicklungspolitik. Die aktuelle Lage der BewohnerInnen in den Quartieren und deren Veränderung werden laufend hinsichtlich bestimmter Indikatoren wie (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, Transferbezug, Anteil der alleinerziehenden Haushalte oder Kinderarmut beobachtet. Sind im Ergebnis Gebiete identifiziert, die im gesamtstädtischen Vergleich überdurchschnittlich stark von sozialer Benachteiligung betroffen sind, erhalten sie besondere Förderung für ausgewählte Einrichtungen der sozialen Infrastruktur im Sinne eines Wertausgleichs. Dem MSS kommt damit eine wichtige Hinweis- und Frühwarnfunktion zu, die ein rechtzeitiges Umsteuern ermöglicht. Dabei braucht es mehr öffentliche Orte statt weniger, mit mehr Qualität und Angeboten für Bedürftige. Und es braucht wieder mehr Sozialwohnungen, keine Luxusappartements.

Auf Bundesebene müssten sich die Länder für die Erweiterung des sozialen Erhaltungsrechts auch für Gewerbe und soziale Infrastruktur einsetzen (sog. Milieuschutz). Analog zum Mietspiegel könnte es eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geben, um in Kommunen mit angespanntem Gewerbemietmarkt einen Gewerbemietspiegel einführen zu können. Diese längst überfällige Maßnahme wäre besonders jetzt in der Krise gefragt.

Schluss mit Spekulation und Betongold, Eigentum verpflichtet. Ab sofort ist ein solidarischer Deckel auf die Warmmieten angesagt, sowohl im Wohn-, als auch im Gewerbebereich. Staatliche Förderung und steuerlich absetzbare Modernisierungsumlagen darf es nur noch geben, wenn der Endenergieverbrauch der vermieteten Immobilien unter 60 kWh pro Quadratmeter und Jahr liegt, 100 Prozent erneuerbar ist und die CO2-Emissionen gering sind. Das hilft dem Klima und allen mit kleinem Geldbeutel bei der Reduzierung der Nebenkosten. VermieterInnen können freiwillig in diesem Sinne investieren! Oder etwa nicht? Braucht es dafür erst komplizierte Verordnungen und Bußgelder?

Dipl.-Ing. Theresa Keilhacker ist freischaffende Architektin und Urban Design Consultant mit Büro in Berlin. Ihr fachlicher Schwerpunkt gilt dem nachhaltigen Planen und Bauen. Sie ist bei diversen politischen Stadtentwicklungsprozessen hinsichtlich Nachhaltigkeitsstrategien involviert. 2014 wurde sie in die Kommission für nachhaltiges Bauen (KNBau) am Umweltbundesamt berufen. Ein Ziel der KNBau ist es, die wissenschaftliche Diskussion zum nachhaltigen Bauen in die Praxis zu bringen.