Der Stadtflüsterer

Hamburgs Oberbaudirektor Franz-Josef Höing will die Hansestadt weiterentwickeln.

Die Vermessung der Stadt findet nicht morgen statt, mit anonymen Algorithmen und Partizipation auf Knopfdruck, sie ist ein dauernder Prozess, der Menschen auf engstem Raum zusammenbringt. Und weil Stadt eine so vermaledeite Gemengelage bildet aus widerstreitenden und verwobenen Interessen, braucht sie Freiheit und Regeln zugleich. Wie gut, wenn es Katalysatoren gibt, die solche Reaktionen begleiten und befördern. Fachleute wie Franz-Josef Höing, Oberbaudirektor der Freien und Hansestadt Hamburg. Der 55-Jährige verbindet zwei wichtige Eigenschaften: Er will etwas bewegen und weiß Bürger zu gewinnen. Innert kürzester Zeit war er im Gespräch – mit Menschen wie mit Medien. Keine Zeitung, keine Rundfunkanstalt, die seit 2017 nicht über Hamburgs neuen Oberbaudirektor berichtete.
Im Gespräch blüht Höing auf. Statt sich hinter Fachbegriffen zu verschanzen, bringt er Dinge auf den Punkt, gewitzt – manchmal sogar überspitzt. Der ehemalige Professor für Städtebau an der Fachhochschule Münster produziert griffige Formulierungen wie andere Wortblasen. Etwa diese: »Briefmarkenplanung«. Damit meint der Stadtplaner das bisherige Klein-Klein.

Höing will größere Linien ziehen. Wenn schon Stadtgewebe, dann bitte als Gesamtteppich, nicht mehr als Flickwerk einzelner gut gestalteter Areale.

Daher hat der in Gescher (Nordrhein-Westfalen) Geborene das weiße Hamburg überschritten und die Ränder und Magistralen als eigentliche Entwicklungsgebiete ausgemacht: Ausfallstraßen, die Jahrzehnte dem Verkehr überlassen wurden – ohne sich groß um die Menschen dort zu kümmern. Das Magistralen-Programm lenkt die Idee der »wachsenden Stadt« wieder auf sich selbst zurück, dorthin, wo Leerstellen im urbanen Gefüge klaffen. Das ist in der Tat ein Paradigmenwechsel. Schon heute gilt Hamburg als Experimentierfeld neuer mobiler Konzepte. Da passt es gut, dass die vom Verkehr überrollten Flächen wieder neues Leben gewinnen sollen. Rund 20.000 Menschen ziehen jedes Jahr in die Hansestadt. Dem Oberbaudirektor ist bewusst, dass er dieses Wachstum nicht einfach abstellen kann, indem er den Fokus der Stadtplanung verändert. Aber er kann Perspektiven schaffen – und Luft gewinnen, gerade an Orten, die bislang überhaupt nicht wahrgenommen oder einfach nicht ernst genommen wurden, weil sie eben so »sperrige, spröde, maßstabslose und unanschauliche« Räume sind.

Höing weiß, dass es nicht einfach werden wird, daher sucht er auch nicht »einfache Rezepte«, sondern »kluge Planungsprozesse, die eine überzeugende räumliche Vorstellung entstehen lassen und alle Akteure einbeziehen.«

Doch wie soll das funktionieren? Da hilft ein Blick auf die Vergangenheit des Stadtflüsterers, der nicht nur Bremer Senatsbaumeister war, sondern von 2012 bis 2017 Dezernent für Stadtentwicklung in Köln. Als Höing vom Rhein an die Elbe wechselte, bedauerte dies die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und beglückwünschte ihren damaligen Kollegen Olaf Scholz »zu diesem Gewinn für Hamburg«. Höing beließ es in Hamburg nicht mit Worten. Er bereitete systematisch den Boden für Veränderungen. Etwa mit dem Internationalen Bauforum, das im August 2019 über 200 Fachleute und 8000 Bürgerinnen zusammenbrachte. Das Ziel des hochkarätig besetzten Fachkongresses mit seinen vielen Workshops: sieben Hamburger Magistralen vermessen, etwa mit Kunst oder »Magistralen-Safaris« für Mitwanderer und Mit-Gestalter.
Das Miteinander findet in Hamburg spielerisch statt – aber auch nach klaren Regeln. Als Höing 2018 von der »ZEIT« befragt wurde, wie er sich denn Partizipation vorstelle, antwortete er, man müsse immer definieren, was verhandelbar sei und was nicht: »Experten sollen nicht zu Zuschauern werden. Beteiligungsprozesse ersetzen auch keine demokratischen Entscheidungswege.« Das ist eine ziemliche Ansage – aber auch eine Chance für Veränderung.

Freundlicher Wiederabdruck der NZZ vom 17.2.20