Wir brauchen menschliche Schwingungen!

Gerhard Wittfeld, kadawittfeldarchitektur, über Kommunikation und Kreativität im Home-Office, unterbrochene Lieferketten und Nachhaltigkeit durch C2C.

Eigentlich hätten wir zum Bauen nach dem C2C-Prinzip gerne mit Gerhard Wittfeld, kadawittfeldarchitektur, eine Veranstaltung im KAP Forum gemacht. Mit ihm lohnt es sich immer zu diskutieren. Aber derzeit ist alles anders. Dafür jetzt ein Telefongespräch mit ihm, das über Gott und die Welt und quer zu den Themen eines zukunftsorientierten Bauens ging. Mehr live (hoffentlich) am 15. September in MKG in Hamburg, gemeinsam mit Franz-Josef Höing, Hamburgs Oberbaudirektor sowie Jasna Moritz von kadawittfeldarchitektur und Vanja Schneider von der Landmarken AG. Baustelle Hamburg II

Hallo Andreas. Wo steckst Du gerade?

Im Home-Office, wie wohl die meisten. Und Du?
Ich bin aktuell im Büro. Wir haben das hier aufgeteilt, etwa ein Drittel ist hier, die anderen sind ebenfalls im Home-Office. Das rotiert. Damit besteht die Chance, Distanz zu halten und gleichzeitig auch mal »raus« aus der häuslichen Umgebung zu kommen. Der informellen Austausch mit den wenigen anwesenden Kollegen oder das Projektteam zwischendurch mal wieder »in echt« zu sehen ist eben nicht völlig verzichtbar.

Und wie läuft die Zusammenarbeit mit den Bauherren oder Projektentwicklern?
Über Videokonferenzen und E-Mail. Das läuft so mittelgut. Vor allem, wenn die Projektaufgaben noch nicht richtig definiert sind, ist das schon schwierig. Das ist ja kein formaler Akt, sondern auch ein kreativer Vorgang. Da merkt man schnell, wie das persönliche Gespräch fehlt. Vor allem, wenn es um gegenseitiges Vertrauen geht, erweist sich der zwischenmenschliche Kontakt als unverzichtbar. Da sieht man dann die Grenzen digitaler Kommunikation. Prozesse kann man prima digital steuern, aber zwischenmenschliche Schwingungen, die wir brauchen, um Innovationen voran zu treiben, funktionieren auf diesem Wege gar nicht.

Wie steht es um die Auftragslage? Bauen hat ja einen langen Vorlauf. Noch zehrt ihr sicher von den laufenden Projekten.
Aktuell sieht es noch gut aus, wir haben genug zu tun. Aber auf längere Sicht, verändert sich die Lage. Wenn jetzt die Auftragslage reißt, bin ich gespannt, wie sich die Situation in einem halben oder dreiviertel Jahr darstellt. Es kommt vor allem darauf an, wie sich die Immobilienwirtschaft verhält.

Und wie sieht es auf den Baustellen aus?
Das hängt ganz davon ab, in welchem Status sich die Bauprojekte befinden. Wenn sie noch im Rohbau sind, geht das. Sand, Beton, Kies etwa sind alle regional vorhanden. Im Bereich Ausbau: problematisch. Fliesen oder Möbel kommen größtenteils aus Italien, technische Anlagen kommen aus Asien … Jetzt merken wir, was es heißt, wenn die Lieferketten unterbrochen werden. Zum Teil müssen wir die Arbeitsabläufe auf den Baustellen auf den möglichen Materialeingang umstellen. Was nicht gerade einfach ist, weil wir die ganzen Handwerkertermine umdesignen müssen.
Nicht nachhaltige Gewerke, die eher dem Niedriglohnsektor zuzuordnen sind, sind besonders betroffen. Alles, was jetzt manufakturierbar ist, was etwa vorgefertigt auf die Baustelle kommen kann, funktioniert. Auch wenn es etwas teuer sein mag, wer regional gut vernetzt ist, kommt zuverlässiger an seine Produkte und erhält zumeist eine bessere Qualität. Diese Geschäftsbeziehungen sind einfach resistenter und zugleich nachhaltiger. Und die Verkürzung von Transportwegen ist doch ohnehin absolut sinnvoll.
Es heißt ja so schön, dass im globalen Gefüge ein Rädchen ins andere greift. Aber nun wird deutlich, wie empfindlich dieses System ist. Und es wird deutlich, dass wir keinen Plan-B haben. Das wird Auswirkungen für die Zeit nach Corona haben, wir merken uns das auf jeden Fall vor. Auch die positiven Erfahrungen mit dem Home-Office werden die Leute nicht vergessen. Das wird künftig eine gleichberechtige Arbeitsform sein.

Auseinandernehmbare Fassaden, geschredderte Stoffe und andere Konventionsbrüche

Was heißt wirklich nachhaltig? Und wie wird ein Haus zum Rohstoffdepot? Gerhard Wittfeld, kadawittfeldarchitektur, über C2C in der Praxis.

In der letzten Ausgabe des »polis-Magazins« wird über ein neues interessantes Projekt von Euch, das die Landmarken AG entwickelt, berichtet. Ein Wohnhochhaus in der Hamburger Hafencity, das nach dem Cradle-2-Cradle-Prinzip gebaut werden soll. Auch wenn C2C schon lange im Umlauf ist, besitzt es immer noch so einen »Exoten-Status«. Eigentlich unbegreiflich. Ist die Zeit nun reif für C2C im Bausektor?
Mit dem Erfinder und Promotor, Michael Braungart, haben wir vor zwei Jahren erste Erfahrungen bei der RAG-Stiftung in Essen gemacht. Weltkulturerbe, Zeche Zollverein, eine reaktivierte Industriebrache und der Neubau der RAG-Stiftung, hier kam so einiges zusammen. Da haben wir uns gesagt, die RAG hat so etwas wie eine Lebensverantwortung für den ganzen Standort, die sich auch beim Bauen zeigen soll. Beim Wettbewerb haben wir uns dann dafür stark gemacht, dass der Stiftungssitz nach den Prinzipien des C2C gebaut wird. Auch im Sinne der Glaubwürdigkeit: Jeder Quadratmeter des Weltkulturerbes wird auf diesem Wege wertvoller. 

Neubau der RAG AG und der RAG Stiftung, geplant durch kadawittfeldarchitektur, Projektentwickler Kölbl Kruse. Aufgrund der erfolgreichen Entwicklung des Areals der Kokerei und Zeche Zollverein sind die RAG Montan Immobilien und die Stiftung Zollverein beim Polis Award für Stadt- und Immobilienentwicklung in der Kategorie »Urbanes Flächenrecycling« ausgezeichnet worden. Die Revitalisierung des UNESCO-Welterbes Zollverein sei ein vorbildliches Beispiel für Dynamik und Erhalt auf einem ehemaligen Industriestandort, so die Jury. Die Neubauprojekte auf dem Areal und die Wiedernutzbarmachung der denkmalgeschützten Gebäude sicherten die nachhaltige Zukunft des Standorts im Essener Norden.

Ein ganz anderes Denken.
Das ist natürlich ein anderes Denken, weil hier nicht nur kurzfristige betriebswirtschaftliche, sondern auch langfristige Unternehmensziele eine Rolle spielen. Dabei sind wir letztlich pragmatisch vorgegangen, weil die Bauindustrie darauf noch gar nicht eingestellt ist und haben geschaut, was wirklich schon geht. Das ist dem Projekt rundweg positiv bekommen. Und es war zudem eine interessante Erfahrung, weil wir etwa Teppichböden bekommen haben, die dezidiert Feinstaub binden. So ist dabei über C2C für die Mitarbeiter ein gesundes Haus entstanden. Wir wollen eine auseinandernehmbare Fassade, die es am Markt nicht gab. Diese wurde dann nach unseren Vorgaben von einem namhaften deutschen Hersteller entwickelt und eingesetzt. So wurden – in Abstimmung mit dem Institut EPEA von Prof. Braungart – Innovationen innerhalb der Bauwirtschaft angeschoben. Etwas teurer am Anfang, aber deutlich günstiger »in the long run«.

Welche Auswirkungen hatten diese Erfahrungen für das jetzt geplante Hamburger Wohnhochhaus »Moringa«?
Auch wenn in Essen bei der RAG-Stiftung nicht der gesamte Bauprozess nach dem C2C umgesetzt werden konnte, haben wir hier doch grundlegende Erfahrungen erarbeitet, die wir jetzt in das neue Projekt einbringen können. Wir haben auch als Architekturbüro viel in das Know-how investiert und uns einen Wissensvorsprung erarbeitet. Der kommt jetzt voll zum Tragen. In Hamburg werden wir sehr viel weiter gehen können. Vor drei Jahren war Recyclingbeton in NRW noch nicht verfügbar. Die Lastannahmen waren seinerzeit nicht verifizierbar. Und jetzt bauen wir damit überall. Was uns auch neue Gestaltungsmöglichkeiten verschafft. Früher hat man Baumaterialien nur als Unterbau im Straßenbau wiederverwandt. Klassisches Downcycling. Und jetzt ist möglich, diese geschredderten Stoffe auf dem gleichen Niveau als vollwertige Baumaterialien einzusetzen.

Und wie geht es weiter?
In den kommenden Projekten setzen wir zunehmend vorgefertigte Konstruktionselemente ein, die später wieder dekonstruiert und wiederverwendet werden können. Das Haus wird so zum Rohstoffdepot. Und in einer zunehmend grüner werden Ökonomie, werden Banken und Fonds künftig verstärkt auf die ökologische Bilanz ihrer Investitionen schauen. Zwei zentrale wirtschaftliche Argumente für das »grüne Bauen«.

Das braucht aber auch Investoren, die da mitgehen.
Mit unserem Bauherrn Jens Kreiterling, Vorstand der Landmarken AG, diskutieren wir diese Fragen laufend.

Die Landmarken AG hat etwa errechnet, dass der Restwert C2C-gebauter Häuser deutlich höher liegt, als zuvor, was positive Auswirkungen auf die Finanzierung hat. Es ist ja ein Unterschied, ob ich am Ende drei Millionen Abrisskosten oder Millionen Rohstoffwerte stehen habe.

Die Landmarken AG hat jetzt eine eigene Gesellschaft, die Moringa GmbH, gegründet, die künftig Gebäude für die unterschiedlichsten Nutzungsformen nach den C2C-Prinzipien entwickeln und zudem die gesamte Baubranche ermuntern soll, an der Entwicklung von bezahlbaren C2C-Materialien zu arbeiten.

Von Skeptikern kommt die Befürchtung, dass die Ausrichtung auf C2C das Bauen uniformieren könnte. Wie siehst Du dieses Argument und bauästhetische Seite?
Das ist vielleicht eine rückwärtsgewandte Angst. Interessant ist C2C für mich gerade auch, weil es so gestaltungsrelevant ist. Ich muss mich intensiver mit Materialien auseinandersetzen und die Elemente des Bauens stärker durchdringen. Bei Glasfassaden gibt es ja längst schon demontierbare Systeme. Da redet doch keiner von Plattenbauästhetik. Die Gebäude haben eine neue Materialästhetik: Back to Basic.

Was heißt das für die Zukunft?
Bauen mit C2C ist aus meiner Sicht äußerst vielschichtig: es schont Ressourcen und Umwelt, ist auf Sicht wirtschaftlicher, gestaltungsrelevant und hat eine hohe soziale Komponente. Für mich stellt das eine Mega-Entwicklung dar, die das Bauen grundlegend verändert und einen notwendigen Beitrag für die Zukunftsentwicklung unserer Gesellschaft liefert.

Mehr live (hoffentlich) am 15. September in MKG in Hamburg, gemeinsam mit Franz-Josef Höing, Hamburgs Oberbaudirektor sowie Jasna Moritz von kadawittfeldarchitektur und Vanja Schneider von der Landmarken AG. Baustelle Hamburg II

MORINGA heißt das Premierenprojekt der Landmarken AG in Hamburgs HafenCity, das in Zusammenarbeit mit kadawittfeldfarchitektur entsteht. Das erste Wohnhochhaus (über 20.000 qm BGF) in Anlehnung an das C2C-Prinzip. Es wird besonders nachhaltig mit recyclefähigen Materialien und mit viel Grünflächen realisiert. In zentraler Wasserlage entstehen Wohnungen für alle Einkommensklassen und unterschiedlliche Lebensformen. Angereichert wird das Wohnen mit einem Co-Working-Space, einer Kita, Veranstaltungsräumen und einer Gastronomie mit Terrasse. Als Serviceeinrichtung u.a. ein Mobility-Sharing-Konzept mit Angeboten vom Lastenrad bis hin zum E-Auto. Im Frühjahr 2021 soll der Bauantrag eingereicht werden.