Lust an Veränderung.
Wie man mit einer wachsenden Stadt umgeht.
Franz-Josef Höing
Oberbaudirektor Freie und Hansestadt Hamburg
Hamburg wächst – und zwar um etwa 20.000 Einwohner pro Jahr. Das ist keine Überraschung, sondern eine Entwicklung, mit der wir hier in der Stadt schon seit zwei Jahrzehnten gut und konsequent umgehen. Die baulichen und freiräumlichen Ergebnisse sind dabei mehr als vorzeigbar. Sie haben über die Stadtgrenzen hinaus für die Diskussion um großstädtische Wachstumsprozesse und die dafür notwendigen räumlichen, baulichen und organisatorischen Strategien wertvolle und im wahrsten Sinne des Wortes anschauliche Beiträge geleistet.
Ausgehend von der Hamburger Innenstadt, die sich mit der HafenCity bis an die Elbe erweitert und durch die stetige Neugestaltung der öffentlichen Räume erneuert hat, hat Hamburg nahezu sämtliche Brachen wieder zu vitalen Bestandteilen der Stadt gemacht. In allen sieben Bezirken der Stadt sind auf ehemaligen Bahn- und Hafenflächen sowie in aufgelassenen Industrie- und Gewerbe-arealen interessante kleinere und größere Quartiere entstanden. Viele davon sind längst zum selbstverständlichen und geschätzten Bestandteil der Stadt geworden. Das wird manchmal gern vergessen, und in der Rückschau mutet die ein oder andere Protestwelle vor und während der Realisierung ziemlich merkwürdig an.
Was uns in den Städten anscheinend über die Jahre verloren gegangen ist, ist die Zuversicht, die Lust an Veränderung, die Einsicht ihrer Notwendigkeit und vor allem das Vertrauen in die Fähigkeiten einer Stadtgesellschaft, das Richtige zu tun.
Denn eines ist längst klar: Einfache Aufgaben gibt es nicht mehr, und einfache Flächen, die sich ohne viel Aufwand nutzen ließen, sind längst bebaut, begrünt, bewohnt …
Deswegen geraten Lagen und Flächen in den Blick, die wir bis dato – wenn überhaupt – eher als stille und schwierige Reserve verbucht hatten. Manchmal sind es sogar Flächen, über die wir Planer und Planerinnen nicht mal gewagt haben nachzudenken. Vielleicht, weil kein Anlass bestand und zunächst einmal die im wahrsten Sinne des Wortes naheliegenden Lagen im Fokus waren. Das soll nicht heißen, dass die Stadt den schwierigen Aufgaben aus dem Weg gegangen wäre – ganz im Gegenteil. All unsere neuen Stadtteile und Quartiere – sei es die Mitte Altona, der »Sprung über die Elbe« nach Wilhelmsburg im Rahmen der Internationalen Bauausstellung, der Harburger Binnenhafen, das »Deckelprojekt« über die A7 oder die Weiterentwicklung des Hamburger Ostens – beruhen auf mutigen Entscheidungen, die Hamburg profiliert haben.
Mut zu neuen Stadtteilen
Ohne die zentralen Lagen aus den Augen zu verlieren, gehen wir nun nach langer Zeit wieder an die Ränder. Wir schauen in die Lagen der Nachkriegszeit, zwischen die Zeilen und Punkte des aufgelockerten Städtebaus mit seinen versteckten Qualitäten und sanierungsbedürftiger Bausubstanz. Dort gibt es viele öffentlich geförderte Wohnungen, dort können sich auch Menschen mit kleinem Geldbeutel die Großstadt noch leisten. Diesen Menschen, die dort gerne leben, erklären wir jetzt, dass ihr Quartier einen Beitrag zum Wachstum der Stadt leisten soll.
Zusätzlich gehen wir wieder an die Nahtstelle zur freien und geschützten Landschaft. Wir trauen uns, dort neue Stadtteile zu bauen – in Oberbillwerder im Osten Hamburgs etwa. Dort sind in der Nachbarschaft in den zurückliegenden Jahrzehnten große Siedlungen entstanden, die wir wie im Fall von Bergedorf West mit nennenswerten Budgets fördern, um sie zu stabilisieren und ihren spröden Charme und die in die Jahre gekommene Bausubstanz zu verbessern. Aus diesen Erfahrungen können und müssen wir lernen: für den Städtebau, den Freiraum, für die von uns so sehnlichst gewünschte Mischung oder die richtige Dichte und Höhe. Es sind Aufgaben, die erst wieder gelernt werden müssen. Im Zweifel ist das viel schwieriger, als mitten in der Stadt ein lebendiges Quartier zu entwickeln. Da »draußen« fehlen uns vielleicht das Fingerspitzengefühl und die eine Idee, die nicht die austauschbare Vorstadt zum Vorbild hat.
Statt einfacher Rezepte braucht es kluge Planungsprozesse, die eine überzeugende räumliche Vorstellung entstehen lassen und alle Akteure einbeziehen.
Ergebnis eines solchen Prozesses für Oberbillwerder ist ein Konzept mit 7.000 Wohnungen und bis zu 4.000 Arbeitsplätzen. Oberbillwerder soll ein neuer Hochschulstandort und ein Stadtteil werden, in dem man sich selbst versorgen kann und ein breit gefächertes Schul- und Sportangebot vorfindet. Gleichzeitig soll Oberbillwerder mit seiner Vielfalt in die angrenzenden Lagen ausstrahlen. Das gekürte Konzept von ADEPT aus Kopenhagen und Karres & Brands aus den Niederlanden jedenfalls macht Lust, an den Stadtrand zu ziehen. Jetzt gilt es, die schönen Bilder in eine gut gebaute und gestaltete Realität zu übersetzen. Das ist ein längerer Weg – auch weil die angedeutete Vielfalt in den Plänen zu bezahlbaren Häusern, Hüllen und Freiräumen führen muss.
In den zurückliegenden Jahren haben wir bestenfalls gut funktionierende Siedlungen gebaut, Stadt an neuen Orten ist nur sehr selten entstanden. Nahezu überall dort, wo wir die Ränder entwickelt haben, wurde das in erster Linie als Verlust von Landschaft und Freiraum wahrgenommen. Deshalb ist es so wichtig, bei den aktuellen großen Vorhaben die Landschaft zum konstituierenden Element zu machen. Das gilt für Oberbillwerder genauso wie für die neue Gartenstadt des 21. Jahrhunderts am Öjendorfer See, für die Weiterentwicklung der Nachkriegsbestände im Hamburger Osten oder für den neuen Wissenschaftsstadtteil Science City in Bahrenfeld.
Die Science City liegt übrigens an der Luruper Chaussee, eine der großen sogenannten Magistralen der Stadt, die als wichtige Ein- und Ausfallstraßen wie Korsettstangen wesentlicher Bestandteil des Hamburger Stadtgrundrisses sind. An diesen hochbelasteten Transiträumen fädeln sich die Stadtteile und Quartiere auf. Sie verbinden den Kern mit dem Rand und dem Umland und sind zugleich, zumindest in Teilabschnitten, vitale Stadtteilzentren. Es sind die Orte, die sich in den kommenden zwei Jahrzehnten am stärksten verändern könnten. Hier ist nicht nur Raum für planerische Fantasie, sondern auch Platz für das Wachstum der Großstadt – nicht nur in Hamburg. Auf und entlang dieser Straßen finden sich nahezu alle Themen der Stadtentwicklung der kommenden Jahre.
Wir haben deshalb im vergangenen August ein Internationales Bauforum veranstaltet. 200 Planerinnen und Planer haben über eine Woche in den Deichtorhallen diskutiert, provoziert und skizzenhafte Pläne entwickelt. Mehr als 8.000 Hamburgerinnen und Hamburger haben die Veranstaltung besucht und es gut gefunden, dass wir uns jetzt ernsthaft mit diesen Räumen beschäftigen, in denen schon heute mehr als 140.000 Hamburgerinnen und Hamburger leben. Wir haben erkannt, wie viel Potenzial diese Räume bergen und dass man eigentlich nur zu einem plausiblen Konzept, zu einem Drehbuch, kommt, wenn man in einem größeren Maßstab denkt – und das mit langem Atem. Den braucht es auch an ganz vielen anderen Stellen in der Stadt, an denen wir zeitgleich arbeiten: bei der Fertigstellung der HafenCity, die mit dem sogenannten Elbtower einen markanten Abschluss erhalten wird, beim kleinen Grasbrook auf der gegenüberliegenden Seite der Norderelbe, wo ein neuer dichter, gemischter Stadtteil entstehen soll, und in der Hamburger Innenstadt, in der eine ganze Reihe von großen Einzelprojekten für einen größeren Investitions- und Erneuerungsschub sorgen werden.
Überall geht es darum, das richtige Maß zu finden, den stadträumlichen und architektonischen Ton zu treffen und die Projekte als Transmissionsriemen für eine lebendigere Stadt zu nutzen – bis dahin ist es noch ein langer Weg.
Franz-Josef Höing ist Architekt und Stadtplaner. Seit 2017 wirkt er als Oberbaudirektor der Freien und Hansestadt Hamburg.