Die aktuelle Wohnungsnot hat eine historische Dimension.
Architekt und Stadtplaner Ernst Hubeli veröffentlichte unlängst eine brillante Streitschrift zur Lage der Stadt und ihrer Bewohner. Wir fragen nach.

Sie sind Architekt und Stadtplaner, dazu ein wortmächtiger Streiter für das Gemeinwohl. Warum beschäftigen Sie sich mit der Wohnungsfrage?

Zur Städtebau- und Architekturgeschichte gehört ja auch die Auseinandersetzung mit dem Boden beziehungsweise mit dem Bodeneigentum. Schließlich stehen Häuser auf dem Boden und schweben nicht in der Luft. Wenn man mit ihr so handeln würde wie heute mit dem Boden, dann würde sich die Gesellschaft in eine atmende und nicht atmende Gesellschaft spalten. Mit anderen Worten: Boden ist, da nicht vermehrbar, natürlicherweise gemeinnützig. Das wussten schon die alten Griechen, die verhandelt haben, wie der Boden im Interesse der Polis benützt und verwertet werden darf.

Auch wenn die Wohnungsfrage seit 150 Jahren ein Dauerbrenner ist – die aktuelle Wohnungsnot hat eine historische Dimension. Über die Hälfte der Stadtbevölkerung sind fast weltweit in der Not, ökonomisch und seelisch. «Wohnen» ist insofern eine Volkskrankheit geworden. Die Ursachen habe ich in meinem Buch ausführlich analysiert. Das Spektrum reicht von der Deregulierung der Märkte, über Hochfrequenzbörsengeschäfte, über die Ökonomisierung der Politik und der Stadtplanung bis zu kognitiven Dissonanzen – zur Idealisierung von Heimat als Falle und «schöner Wohnen» als Zwangsneurose.

In der Tat zeigen Sie die Schattenseiten des Immobilienbooms. »Immobilien wie Wohnungen sind Waren, die als solche gehandelt werden«, schreiben Sie an einer Stelle. Was sollten Wohnungen stattdessen sein?

Die Kritik an der Bodenverwertung passt nicht mehr in ein Links-Rechts-Schema, selbst der Vizepräsident von Blackrock, Phillip Hildebrand meint, dass das globale Immobiliengeschäft unproduktiv, redundant und volkswirtschaftlich schädlich ist. Mit der Folge, dass in der Not jede Wohnung begehrt ist, auch jede Schrottwohnung. Es spielt also keine Rolle, welche Wohnung auf den Market geworfen wird. Es kann am Bedarf und an den Bedürfnissen vorbei produziert werden. So wird immer noch das Wohn-Ess-Schlafzimmer-Bad-WC-Schema en mass gebaut, obwohl in den Städten dieses kleinfamiliäre Muster aus den 50er Jahren nur rund 10% der Haushalte entspricht. Längst hat sich die Gesellschaft in rund zwölf unterschiedliche Milieus differenziert, denen stark heterogene Wohnformen entsprechen würden. Es werden also jene Wohnungen am meisten gebaut, welche die wenigsten wünschen. Da müssen sich auch Architekten und -innen fragen, ob sie auf der Seite des Problems stehen oder auf der Seite möglicher Lösungen.

Und mögliche Lösungen wären?

Damit Wohnungsnagebote dem Bedarf und den Bedürfnissen entsprechen können, müssen zunächst die Produktionsbedingungen geändert werden, die nachweislich den Bedarf ignoriert haben. Es ist ja auch so – das weiß ich aus Erfahrung – dass für Investoren (abgesehen von wenigen Ausnahmen) Wohnsoziologie und Stadtforschung Fremdworte sind und auch in ihrer Ausbildung fehlen.

Heute muss man sich nicht fragen, was in einer Wohnung geschieht, sondern was allenfalls nicht. Sie ist eine Weltbibliothek und ein globales Kommunikationszentrum. Wohnen ist heute also postfunktional und decodiert; es ist keine Form, sondern eine Überform. Wohnen ist also keine Ware oder ein Ding ist, sondern ein Prozess: Wohnen ist nicht, sondern, entsteht. Wie auch Identitäten und selbst «schöner Wohnen» einen Aneignungsprozess voraussetzten und nicht käufliche sind. Wohnen dreht sich um etwas Unfertiges, um Spielräume und nicht um Normierung und Bevormundung, weder in funktionaler noch ästhetischer Hinsicht. Wohnen ist ein «unberechenbares Ereignis (Martin Heidegger). Wenn es dafür einen Imperativ für das Wohnen im 21. Jahrhundert gäbe, wäre es ein immaterieller Luxus: Gibt mir ein Reichtum an Möglichkeiten, den Rest mache ich selbst.

Sie lieben es grundsätzlich. Und zitieren aus den Stadtanalysen von UN-Habitat. Die Ergebnisse stimmen nachdenklich: »Das börsenfixierte und deregulierte Wachstum der Städte stellt auch deren Überleben infrage« ist Ihre Schlussfolgerung. Was haben Kommunen den globalen Finanzströmen entgegenzusetzen?

Was heißt da grundsätzlich? Die Abhängigkeiten von den Produktionsbedingungen sind real und haben zur Folge, dass Wohnen nicht die Gesellschaft spiegelt, sondern sich von ihr gelöst hat. Die Meinung, dass eine «schöner Entwurf» oder «gute Architektur» die Produktionsbedingungen überlisten können, ist ein Illusion, der viele Architekten mit ihrer Selbstüberschätzung verfallen. Insofern gehört es zur Ausbildung, dass Architektur zwar auch eine kulturelle Disziplin ist, diese sich aber innerhalb ihrer politisch ökonomischen Voraussetzungen sich bewegt. Es gibt also kein Entrinnen: Städtebauliche wie architektonische Innovationen thematisieren – und heute vor allem – auch ihre Rahmenbedingungen.

Sehr genau haben Sie Berlin verfolgt und sprechen salopp vom »Berliner Enteignungsgroove«. Für viele ist das ein Schreckensszenario: Wohnbaukonzerne sollen enteignet werden … Was entgegnen Sie?

Der Ruf nach Bodenreformen beziehungsweise nach Sozialisierung des Bodens kommt heute selbst von Horst Seehofer und – wie gesagt – von CEOs großer Anlagekonzerne. Es kann ja nicht ewig so weitergehen, dass Bodenpreise und Mietkosten wie in den letzten 20, 30 Jahren in den Städten jährlich um 10% ansteigen, was für die meisten ja eine Lohnreduktion und insofern eine Enteignung bedeutet.

Enteignung der Mieter– wollen Sie das kurz erklären? Gemeinhin wird Enteignung mit Eigentum verbunden …

Wenn die Mieten steigen und die Löhne gleichbleiben (oder sinken), entspricht das einer Lohnreduktion – insofern werden die Mieter enteignet und von vielen wird das auch so empfunden. Die entsprechende Frage: Wer wird da eigentlich enteignet?, gehört zum Berliner Diskurs, an dem unter anderem Josef Vogl beteilgt war.

Wir haben insofern keine Wohnungskrise, sondern eine Bodenkrise. Dem Geschäftsmodell der Immobilien entspricht das Ideal, gar nicht zu bauen, sondern auf Bodenpreissteigerungen zu warten, was den Performanceerwartungen erfüllt, also börsenkonform ist. Zu dieser Markt- beziehungsweise Aktienlogik gehört, dass es zentralsten Lagen viele Phantomwohnungen gibt, die leer stehen und nach zehn Jahre zum doppelten Preis verkauft werden.

Was ist zu tun?

Die Instrumente, die heute von Berlin bis nach Basel eingeführt werden sollen, sind Mietendeckel mit Mietobergrenzen. In Berlin auch Enteignung von großen Immobilienkonzernen. Und in Wien dominiert der gemeinnützige Wohnungsbau mit über 65% seit 100 Jahren den freien Wohnungsmarkt. Solche Instrumente sind verfassungskonform, und inzwischen auch politisch realistisch, weil nicht mehr das kommunistische Gespenst hinter dem Eisernen Vorhang lauert. Rund 70% der Berliner, denen man kaum Linksextremismus unterstellen kann, bejahen Enteignungen.

Was wären die ersten drei Maßnahmen, die Sie als … sagen wir: Wohnungsbausenator einer deutschen Großstadt treffen würden …?

Politisch, ökonomisch: Mietendeckel mit Mietobergrenzen, differenziert nach Quartieren und die Enteignung von Wohnbaukonzernen, die seit Jahrzehnten belegt haben, dass sie Wohnungsnöte nicht beseitigen, sondern von ihnen profitieren, was gemäß den Grundgesetzen von 1949 auch verfassungswidrig ist, weil eine Grundversorgung durch den freien Markt nicht garantiert wurde.

Städtebaulich: Mikroverdichtungen, die ausloten welche Potenziale für Nachverdichtungen bestehen, die nur kleine Eingriffe benötigen und eher Flächenumwidmungen anpeilen. Dieses Thema ist auch für die Ausbildung relevant. In der Schweiz sind wir dabei an verschiedenen Hochschulen, das Thema als Projektstudium zu etablieren – bzw. als Forschung und Lehre zu integrieren. Auch in Berlin und Wien sind entsprechende Studien geplant. Ich vermute, dass besonders in München die Chancen für Mikroverdichtungen besonders hoch sind. Oder?

Wenn die Wohnungsfrage schon eine gesellschaftliche Frage ist – wie lösen wir sie? Und wie gehen wir mit dem Boden als Ressource um, die nicht zu vermehren ist?

Meine These ist: Wohnformen, die sich aktuell abzeichnen, werden früher oder später in eine andere Stadtform übergehen. Viele urbane Milieus reduzieren ihren privaten Wohnraum und verbinden den Alltag vermehrt mit der Außenwelt. Aus Haushaltenergie wird urbane Energie. Und die meisten Frauen wollen nicht mehr in einem Wohn-Kinder-Getto leben und nochmals den neusten Paulo Coelho unter dem Apfelbaum lesen. Die Anteile urbaner Milieus wie der Berufs- und Bildungswanderer bewegt sich bereits um 25- 30 % der Stadtbevölkerung und wird auf rund die Hälfte anwachsen. Daran ändert auch Corona nichts.

Diese neuen Innen-Außen-Verhältnisse erfordern weniger bauliche Interventionen, als eine Umstrukturierung der Flächen. Wir sind an einer Forschung, die belegt, dass Mikroverdichtungen (die nicht bauliche, also organisatorische und funktionelle Umwidmungen einschließen) eine Stadtrückwanderung ermöglichen, die nur ein geringes bauliches Wachstum voraussetzen. Dieses Ziel, ein weiteres Stadtwachstum nach Außen zu verhindern, verfolgen auch die europäischen Energiestrategien 2050, die in den Umsetzungsmodus übergehen beziehungsweise übergehen müssen.

Zudem kann mit Mikroverdichtungen eine Baukosten-Miete erreicht werden, da für diese innere Verdichtung nicht zusätzlicher Boden benötigt wird. Im Gegensatz zur Kostenmiete wird der Miete also nur die Bau- beziehungsweise Umbaukosten angelastet, was an zentralen Lagen die Miete halbiert, da die Bodenverzinsung entfällt. Natürlich braucht es dazu eine gesetzliche Regelung, die eine städtebauliche Alternative zum Mietendeckel ist und darüber hinaus neuen Wohnraum mit tiefen Kosten ermöglicht, weil sie der Bodenspekulation entzogen sind.

Sind sie eigentlich noch Optimist, was die Wohnungsfrage angeht?

Weil, wie erwähnt, selbst von den ideologisch nicht verblendeten Verfechtern die Grenzen des freien Marktes erkannt werden. Wenn in den Städten nur noch Hipster und Reiche sich selbst begegnen können, ist das auch für sie ein urbanes Stahlbad. Und mit dem Zerfall des sozialen Zusammenhaltes und urbaner Verödung wird auch die Beute des Immobilienmarkt zerstört.

Ernst Hubeli:
Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert.
Rotpunktverlag, Zürich, 2020. 200 Seiten.