Eckhard Gerber: Vom Klang der Architektur

Über Architektur und Gesellschaft, Haltung und unternehmerisches Engagement. Der Architekt und Hochschullehrer Eckhard Gerber im Gespräch.

WERDEN

In Thüringen geboren, wuchsen Sie bis zu Ihrem Abitur im geteilten Deutschland in der ehemaligen DDR auf. Nach der Flucht mit Ihrer Familie nach Westdeutschland nahmen Sie Ihr Architekturstudium an der Technischen Hochschule Braunschweig auf, deren Bedeutung als Architekturhochschule durch Köpfe wie Dieter Oesterlen, Friedrich Wilhelm Kraemer sowie Walter Henn begründet wurde. Was haben Sie aus dieser Zeit für Ihr Leben und Ihre Arbeit mitgenommen und was zählt davon bis heute?
Der Beginn des Studiums bis zum Vordiplom war für mich eine Phase des Einfindens in die neue Welt der freien Bundesrepublik. Ich musste mir wegen meiner DDR-Vergangenheit viel Kulturhistorisches neu erarbeiten. Hier war für mich ein anderer, aber auch sehr wichtiger Lehrer der Bau- und Kunstgeschichte, nämlich Konrad Hecht, von großer Bedeutung. Erst im Hauptstudium kamen das Entwerfen und die „Lehrjahre“ bei Oesterlen, Kraemer und Henn. Die gemeinsame Architekturphilosophie der Braunschweiger Schule hat sie verbunden und doch war jeder dieser Lehrer gerade in seiner Unterschiedlichkeit zu den anderen von großer Bedeutung.

Wollen Sie diese Persönlichkeiten kurz vorstellen?
Bei Walter Henn erfuhren wir die unbedingte Notwendigkeit von konsequent funktionalen Strukturen. Friedrich Wilhelm Kraemer war der Architekturphilosoph und eher der Prediger der schönen, aber reduzierten Architektur, die in den 30er Jahren aus dem Bauhaus nach Amerika flüchtete, und über Kraemer dann in den 1960er Jahren wieder zurück zu uns nach Deutschland beziehungsweise nach Braunschweig kam. Bei Dieter Oesterlen haben wir „Architektur-machen“ gelernt. In seiner Vorlesung „Das Detail im Gesamtentwurf“ hat er uns etwa anhand seiner gewonnenen Wettbewerbe seine Projekte bis zum letzten Detail vorgestellt und uns aufgezeigt, wie wichtig das Gesamtkonzept im Durchdenken und Durchführen bis ins letzte Detail bei unserer Arbeit ist. Wettbewerbe richtig zu entwickeln und zu gewinnen, das habe ich bei Dieter Oesterlen erfahren.

Gemeinhin geht man davon aus, dass große Architekten durch Metropolen geprägt werden. Meschede und auch das Ruhrrevier gelten nicht gerade als Mekka für junge aufstrebende Architekten. Wie war es Ihnen möglich, aus dieser eher randständigen Lage über die Jahre ein international bedeutsames Architekturbüro aufzubauen?
Die Ruhrregion als randständige Lage zu bezeichnen, entspricht sicherlich nicht ihrer Bedeutung. Sie war schon in den 1950er und 1960er Jahren ganz vorne, was weltoffene Architektur anbetrifft. Die Rathäuser von van den Broek und Bakema in Marl oder von Arne Jacobsen in Castrop-Rauxel sind Weltereignisse in der Architektur, die über große internationale Wettbewerbe entstanden sind. Oder auch das Musiktheater in Gelsenkirchen (von Ruhnau) und das Schauspielhaus Bochum (von Graubner) sind herausragende Architekturbeispiele. In den 1980er und 90er Jahren dann die Internationale Bauausstellung, die von Karl Ganser geleitet wurde, aus der großartige Projekte entstanden sind, wie die Zeche Zollverein in Essen mit dem Ruhrmuseum (Rem Koolhaas). Die Darstellung der Ruhrregion in den Medien und ihr Image entsprechen nicht der realen Wirklichkeit, wir arbeiten aber ständig an einer Veränderung und wir bringen uns mit unserer Arbeit in diesen Veränderungsprozess mit ein. So sehen wir unsere Arbeit nicht aus einer eher „randständigen Lage“, sondern mitten aus dem weltweiten Architekturgeschehen. Die Ruhrregion ist mit ihren Menschen eine sehr offene, wissbegierige, kreative und zukunftsorientierte Region.

Wie nur wenige kennen wie Sie die Architekturentwicklung seit den 1950er Jahren, haben selbst dazu beigetragen. Sie sind heute mit 82 Jahren immer noch aktiv. Was hat Sie über all die Jahre am meisten bewegt und geprägt?
Immer hat mich das Architekturgeschehen über die Jahre bewegt und geprägt, beispielsweise die Veränderungen der Architektursprachen und die immer stärkere Hinwendung zu Autorenarchitekturen – Architekten, die täglich die Architektur neu erfinden möchten. Dabei hat sich das Bauen über die Jahrhunderte, was seine Sinnhaftigkeit anbetrifft, nicht wesentlich verändert. Immer wieder werden heute Themen ausgerufen, die häufig selbstverständlich und gar nicht neu sind, wie etwa die Nachhaltigkeit. 
Ich denke, mich hat besonders die ständige Sorge um das ja beabsichtigte größer werdende „Unternehmen“ Architekturbüro geprägt – und die damit verbundene Notwendigkeit, immer wieder Erfolg zu habe,. Dabei hat mich auch immer bewegt und umgetrieben, unseren hohen Anspruch an Architekturqualität nicht zu verlassen oder aus den Augen zu verlieren.
Ich denke, auch die 25-jährige Zeit als Architekturlehrer an der Essener und der Bergischen Universität Wuppertal war für mich dabei eine große und bedeutende Hilfe.

Sie waren lange an der Universität tätig. Was lässt sich an junge Menschen vermitteln, was müssen diese selbst mitbringen?
Wie schon gesagt: Die Arbeit an der Universität war für mich auch eine wichtige Zeit des immer wieder Selbst-Lernens. Des Herausfindens, was für die Lehre für meine Studenten wichtig sein könnte, damit sie am Ende gute Architekten werden. Das Beschäftigen mit den theoretischen Ansätzen, zum Beispiel in der Findung von Gestaltprinzipien, war auch für die eigene Arbeit im Büro von besonderer Bedeutung; aber auch das Finden von vielen Gedanken, die durch Gespräche mit den Studenten, aber auch das Erklären der Dinge entstehen. Voraussetzungen für das Architekturstudium sollten natürlich vorhanden sein. Ganz wichtig ist das dreidimensionale und das logische Denken, aber auch das natürliche Gefühl für die schönen Dinge und Proportionen. Als Lehrer können wir den jungen Menschen viele Dinge als Werkzeug an die Hand geben. Die eigentliche Begabung für das wirklich Kreative kann man, glaube ich, als Lehrer nicht vermitteln, eher nur anstoßen und wecken.

Internationale Präsenz ist für deutsche Architekturbüros nach wie vor nicht selbstverständlich: Wie gelang Ihnen der Einstieg in den Mittleren Osten und später nach China?
Die Universitätsbibliothek in Göttingen schuf uns den Eintritt nach Saudi-Arabien. In einem französischen Architekturführer über ausgezeichnete Bibliotheken, der in Saudi-Arabien zur Auswahl geeigneter Architekturbüros herangezogen wurde, waren wir vertreten und wurden zu einem Wettbewerb geladen. Den gewannen wir und bauten schließlich die Nationalbibliothek in Riad. Seither sind wir dort vertreten. Unser China-Engagement lief über chinesische Mitarbeiter, über die wir dort Kontakt fassten und uns inzwischen mit einem Büro in Shanghai etabliert haben.

DENKEN

Wenn Sie die Summe Ihres Denkens und Ihrer Erfahrung in wenigen Sätzen zusammenfassen müssten, was wäre das …?
Ganzheitliches Denken bis ins kleinste Detail als Teil des Ganzen. Bei jedem Entwurf immer wieder den Versuch machen, ganz tief in die jeweilige Aufgabenstellung einzudringen und einen Entwurf aus den ursprünglichen Ansätzen von der Gestaltfindung zu beginnen. Ständiges Machen und Üben sind notwendig. Der verlorene Wettbewerb kann immer wieder zu einer wichtigen Vorübung für den nächsten Wettbewerbsgewinn werden. Für mich war es wichtig, keinen eigenen „Baustil“ zu entwickeln, sondern vielmehr die Vielfalt der wunderbaren Möglichkeiten, die uns in den Gestaltprinzipien, den Materialien, der Farbigkeit und ihrer grenzenlosen Möglichkeit des miteinander Klingens gegeben sind, auszuschöpfen, aber die Inhalte, wie etwa die Verknüpfung von Gebäude und Landschaft, die Orientierbarkeit und anderes immer wieder neu in Architektur zu definieren.

Wohnungsnot stand am Beginn Ihrer beruflichen Entwicklung in den 1950er Jahren und steht heute abermals im Brennpunkt der gesellschaftlichen Diskussion. Was ist schiefgelaufen und was müsste aus Ihrer Sicht passieren, um das Problem wirksam anzugehen?
Der Wohnungsbau war bis in die 1980er Jahre im Grunde genommen keine Bauaufgabe für engagierte Architekten. Er spielte sich leider im untersten Level bei großen Bauherrschaften von Wohnungsbaugesellschaften ab, wie beispielsweise der „Neuen Heimat“. Erst mit der IBA in Berlin gab es allmählich eine offene gesellschaftliche Diskussion über die Bedeutung von Wohnungsbau. In den 1960er Jahren gab es aber schon viele interessante Idealansätze über den Wohnungsbau, ich denke da an Le Corbusier, an Eckhard Schulze-Fielitz, an Kenzo Tange, an die Konzepte der Hügelhäuser von Frey beziehungsweise an Stadtstrukturen von Dietrich. Das waren aber Sonderdiskussionen, zum Teil mit gebauten Versuchen, die damals leider nicht in das Feld des allgemeinen Wohnungsbaus einflossen. Der Wohnungsbau ist heute zu sehr privatisiert, ist häufig ein Spielball gewinnorientierter Unternehmen, was nicht oft zu Qualität und schon gar nicht zur Möglichkeit des sozialgerechten Wohnungsbaus führen kann. Dazu müssten die Strukturen von Bauherrschaften, wie zum Beispiel von Wohnungsbau-Genossenschaften, politisch und steuertechnisch unterstützt werden, damit dieses Problem des bezahlbaren Wohnens gelöst werden kann.

Heute gehen die Schüler, ausgelöst durch Greta Thunbergs „Fridays-For-Future-Bewegung“, auf die Straße und fordern eine gesellschaftliche Umkehr von immer größerem Ressourcenverbrauch und einen wirksamen Stopp des globalen Klimawandels. Welchen Beitrag können aus Ihrer Sicht Architekten, Designer und Stadtplaner leisten, um das Planen und Bauen insgesamt ökologischer und damit zukunftsweisender zu gestalten?
Nachdem wir alle unseren Planeten immer mehr ausräubern, ist die Bewegung um Greta Thunberg sehr verständlich. Nachhaltiges Denken und nachhaltiges Tun ist in allen Bereichen notwendig und natürlich auch bei unserer Arbeit. Aufgrund der „unbegrenzten“ Möglichkeiten von Energie seit den 1960er Jahren ist der nachhaltige Umgang mit unserem Planeten vergessen worden, woran wir jetzt, aufgrund der rasanten Klimaveränderung, täglich erinnert werden. Das hat zum weltweiten Umdenken geführt, in den einzelnen Ländern mal mehr, mal weniger. In der vorindustriellen Zeit, als die Ressourcen knapp waren, wurde schon aufgrund dieses Mangels nachhaltig gebaut. Die Stellung der Häuser zur Sonne, kleine Fenster, nächtliche Wärmepuffer der Außenwände durch weite Dachüberstände, Reduzierung der beheizten Räume … waren selbstverständlich, wie auch das Nutzen der vor Ort vorkommenden Materialien. Auch vorhandene Gebäude sind als vorhandene Ressourcen zu verstehen und nicht abzureißen, sondern mit neuen Funktionen wieder neu zu beleben. Wir müssen uns neu Gedanken machen, wie dies mit dem geringsten Aufwand am besten geht. Wir kennen darüber hinaus alle Möglichkeiten, unsere Gebäude auch in ökologischer und energetischer Weise zeitgerecht zu gestalten, was jedoch einen erhöhten Kostenaufwand beim Bauen notwendig macht, wodurch deshalb darauf dann immer wieder verzichtet wird.

KLINGEN

»Vom Klang der Architektur«, lautet der Titel Ihres jüngsten Buchs. Musik spielt seit Ihrer frühesten Jugend eine große Rolle in Ihrem Leben. Wir haben das KAP Forum 2004 mit einem Vortrag von Daniel Libeskind eröffnet. Er sprach ebenfalls davon, wie sehr ihn die Musik als Architekt beeinflussen würde. Inwieweit hat die Leidenschaft für die Musik Ihren Weg in die Architektur geprägt? Gibt es für Sie Parallelen oder Analogien?
Die Musik wie die Architektur bieten die Möglichkeit, sich musisch in der Architektur beziehungsweise architektonisch in der Musik auszudrücken. Das Improvisieren auf der Trompete ist für mich das Gleiche wie das Entwerfen in der Architektur. Das Entwerfen ist erst einmal improvisieren, ausloten aller Möglichkeiten, aber im Rahmen gewisser Strukturen und Vorgaben, wie dies beispielsweise auch im Jazz mit den Melodie- und Harmoniefolgen jeweils festgelegt ist. Für mich ist das Improvisieren auf der Trompete wie das Gehen, Suchen und Finden neuer Dinge, wie wir es als Architekten bei der Suche nach neuen architektonischen Konzepten immer wieder tun. Somit gibt es ganz starke Parallelen beziehungsweise Analogien in beiden Bereichen der Kunst. Dabei muss ich aber immer wieder betonen, ich bin weniger ein Musiker, sondern vielmehr ein Musikant. Das möchte ich in der Parallele zur Architektur für mich aber nicht so sehen.

Spielt Musik auch heute noch eine so bedeutsame Rolle für Sie und Ihre Arbeit?
Musik spielt für mich auch heute noch eine bedeutsame Rolle, nicht im Brillieren als Mitglied einer Jazzband wie früher, aber im Rahmen der musikalischen Beschäftigung, die mir immer wieder viel gibt und immer wieder Hilfe und Anstoß für meine Arbeit als Architekt ist. Dazu kommt noch, dass ich seit einem halben Jahr mit meinem 12-jährigen Sohn Martin, der jetzt auch Trompete spielt, fast täglich üben kann. Das bindet aneinander und macht Freude miteinander und manchmal auch Freude für Freunde.

Buchempfehlung

Eckhard Gerber: Vom Klang der Architektur, Jovis Verlag, Berlin 2019.

Kein üblicher Werkbericht, sondern ein lebendiger Einblick in die Nachkriegsentwicklung des Planen und Bauens, über Architektur und Gesellschaft, über Haltung und unternehmerisches Engagement.

Eckhard Gerber begann nach dem Architekturstudium an der TH Braunschweig 1966 seine selbständige Tätigkeit mit dem Büro „Werkgemeinschaft 66“. 1979 gründete er in Dortmund das Büro Gerber Architekten, heute mit weiteren Büros in Hamburg, Berlin, Münster, Riad und Shanghai.

Eckhard Gerber wurde an die Universität Essen und an die Bergische Universität Wuppertal berufen, erhielt Gastprofessuren am Harbin Institute of Technology und an der Dalian University of Technology School of Architecture and Fine Art in China. Eckhard Gerber ist Mitglied im BDA und im Deutschen Werkbund wie auch regelmäßig Juryvorsitzender bei nationalen und internationalen Wettbewerben, Referent bei nationalen und internationalen Konferenzen und wurde mit über 80 Architekturpreisen mehr als 450 Wettbewerbserfolgen ausgezeichnet.

Copyright

Porträt Eckhard Gerber: ©Gerber Architekten, Foto Udo Hesse
Werden / Einreise BRD: Foto privat
Werden / King Fahad Natinalbibliothek: ©Gerber Architekten, Foto Christian Richters
Denken / Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt: Foto Dieter Leistner
Denken / Kopfbauten Weltquartier Wilhelmsburg: Foto skyeye360.de
Klingen / Eckhard Gerber mit Trompete: ©Gerber Architekten, Foto Irene Osei-Poku
Klingen / Toennishof: ©Gerber Architekten