Improvisation ist nicht unbedingt Teil bundesdeutscher Nachkriegskultur

Was »Umbaukultur« heute bedeutet. Gespräch mit den Hochschullehrern Christoph Grafe und Tim Rieniets anlässlich ihrer neuesten Publikation.

Das Buch scheint genau für diese Zeit geschrieben. Was aber waren Ausgangspunkte und treibenden Gedanken für das Buch?
Christoph Grafe/ Tim Rieniets: Das Thema des Umbaus ist ja nicht neu. Herrmann Czech formulierte schon in den 1980er Jahren, dass in der Architektur alles Umbau ist und Muck Petzet hat immerhin schon 2012 seine Installation »Reduce, Reuse, Recycle« auf der Architekturbiennale in Venedig zusammengestellt. StadtBauKultur NRW (seit Anfang 2020 Baukultur NRW) hat sich seit 2014 intensiv mit dem Thema befasst und diverse Studien und Projekte begleitet. An den Universitäten ist die Frage der Transformation auch vielerorts angekommen. 

An welchen Hochschulen genau?
In Wuppertal zum Beispiel gibt es einen Lehrstuhl »Bauen mit Bestand« und die Universität Hasselt (40 Kilometer westlich von Aachen) hat ein internationales Masterprogramm »Adaptive Re-use«. 

Was war das Ziel der Publikation?
Wir wollten ein Buch machen, das anhand von vorbildlichen Projekten zeigt, wie das Prinzip des Umbaus zu einer neuen Herangehensweise an die Architektur führt. Gleichzeitig wollten wir aber auch zeigen, dass das Prinzip des Umbaus uralt ist: Kein historischer Dachstuhl, der nicht alte Holzbauteile enthält; kein historisches Mauerwerk, in dem nicht alte Steine verbaut wären. Die Verwendung alter Baustoffe, alter Bauteile und alter Bauwerke war über viele Jahrhunderte ein Gebot der ökonomischen Vernunft. Wenn wir uns heute also vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen dem Prinzip des Umbaus zuwenden, können wir jahrhundertealtes Wissen aktivieren und daran anknüpfen. Auch das wollten wir in unserem Buch zeigen. 

Publikationsdesign: konter – Studio für Gestaltung

Gerne denken wir an die gemeinsame Reihe im KAP Forum zur Architektur in Flandern. Dabei fiel ganz besonders der kreative und behutsame Umgang der Architekten mit der vorhandenen und alltäglichen Bausubstanz auf. Worin ist diese Haltung begründet, die sich so deutlich von uns hier in Deutschland unterscheidet?
Der Blick in unsere europäische Region ist tatsächlich aufschlussreich. Vor allem in Belgien, aber beispielsweise auch in Spanien oder Portugal, scheint es tatsächlich viel einfacher zu sein, den Umbau eines Bestandsbaus als eine Möglichkeit zum Experiment und zur Hinterfragung architektonischer Sprachen zu nutzen. Die Dominanz eines kurzsichtigen und rein technischen Denkens bei der sogenannten Ertüchtigung scheint in Deutschland besonders ausgeprägt. 

Und woran liegt das?
Vielleicht ist die unheilige Allianz der Bauindustrie mit der Automobilbranche nirgendwo so mächtig wie hier: die flächendeckende Anwendung von Wärmedämmverbundsystemen soll den Energiefraß an anderer Stelle kompensieren.

 In anderen europäischen Regionen wird der Umbau eher als eine kulturelle und auch als eine künstlerische Chance gesehen. Daneben können Belgier, Spanier oder Portugiesen vielleicht auch besser damit umgehen, dass ein Haus in Teilen unfertig ist, oder Spuren von Gebrauch aufweist. Improvisation ist nicht unbedingt ein Teil der bundesdeutschen Nachkriegskultur. Aber manchmal sind es auch Architekten, die ihre Handschrift lieber in einem repräsentativen Neubau hinterlassen, anstatt mit der schwierigen Suche nach Lösungen zur Wiederverwendung zu beginnen. Intelligente Lösungen für Nachhaltigkeit stoßen deswegen oft auf eine Koalition von Parteien, die sich einig sind in ihrer Tendenz zur Risikovermeidung.

Umnutzung Lysbüchelareal Basel – Foto: baubüro in situ

Dass Bauen einer der größten Ressourcenfresser ist, ist hinlänglich bekannt. Warum aber ist »Umbaukultur« in unseren Breiten noch immer eher unterentwickelt?
Zunächst einmal: Es wird auch in Köln, Hamburg, Freiburg oder Kiel viel umgebaut. Die Umsatzzahlen der Architekten weisen schon seit Jahren darauf hin, dass das Umbauen an Bedeutung gewinnt. Schon heute verdienen Architekten oft mehr Geld im Bestand als im Neubau. Wir wollen mit dem Buch darauf hinweisen, dass dies eine veränderte Wahrnehmung beinhaltet, die auch in der Alltagsarchitektur aufspürt, was bleibenden Wert hat. Bei diesem Aufspüren kann BIM vorläufig nicht helfen: es geht oft um ein ausgesprochen architektonisch geschultes Gespür für die potenziellen Qualitäten des Raums, der Konstruktion oder der vorhandenen Materialien. Auch dies ist ein Anliegen unseres Buchs: zu zeigen, dass eine kritische, aber eben auch empathische Aufnahme des Bestandes neue Spielräume schafft. 

Nachhaltige Lösungen für Umbau sind oft nicht technisch komplex, sondern sehr einfach. Was sie brauchen, ist ein gewisser Nichtkonformismus. Nicht jede Oberfläche muss geglättet werden, und nicht jede Unebenheit muss beseitigt werden.

 Spuren der Nutzungsgeschichte können sichtbar bleiben. Nicht jeder verfügbare Raum muss funktional genau definiert werden, und die klimatechnischen Anforderungen könnten flexibler gestaltet werden. Schließlich brauchen wir nicht ständig in einem Thermokokon von durchschnittlich 21 Grad zu leben.

Corona sei ein großer unfreiwilliger Feldversuch für die Stadt der Zukunft, sagt Niklas Maak, Leiter des Kunstressorts der FAZ. Was sind die zentralen Herausforderungen beim Planen und Bauen, die jetzt dringend angepackt werden sollten?
Die Diskussion über die Zukunftsentwicklung der Innenstädte wird sich zweifelsohne beschleunigen. Veränderte Konsumgewohnheiten haben schon vor Corona dazu geführt, dass die einstigen Flaggschiffe des Massenkonsums, die Kaufhäuser, obsolet waren. Praktisch in allen europäischen Städten finden sich Lagen, in denen ein erheblicher Leerstand in den erdgeschossgebunden Einzelhandelsflächen vorzufinden sind. Da waren schon länger bauliche und programmatische Konzepte jenseits des Einzelhandels gefragt, um die Erdgeschosszonen und mit ihnen den angrenzenden öffentlichen Raum wieder auf zu werten. Jetzt wird der Handlungsbedarf an dieser Stelle sehr schnell sichtbar und – was die Sache schwieriger macht – die Gastronomie als Alternativnutzung wird möglicherweise ausfallen.

Wie gehen zukünftig wir mit Nähe um?
Das ist ein Punkt, den wir vielleicht mit Sorge betrachten müssen: Unser Plädoyer für den Umbau passt in den Verdichtungsdiskurs, den wir gleichzeitig in den letzten Jahren in die Gesellschaft zu bringen versucht haben. Es ist nicht auszuschließen, dass die neue Angst vor der Nähe zu Anderen diese Entwicklung stoppt oder zumindest negativ beeinflusst. Wenn die Menschen aus Corona die Konsequenz ziehen, dass sie das Wohnhaus mit Garten der Etagenwohnung in der Innenstadt vorziehen, ergibt dies auch eine Herausforderung für die Umnutzungsperspektiven vor Ort.

Und die Kommunen, wo bleiben die?
Gleichzeitig ist jetzt schon klar, dass die öffentlichen Haushalte auf Jahre mit den Folgen der letzten zwei oder drei Monate zu kämpfen haben werden. Dann ist ein kritischer (will sagen: behutsamer) Umgang mit dem, was schon da ist, noch wichtiger. Das Thema des Umbaus wird die Gesellschaft also in den nächsten Jahren ganz sicher intensiv beschäftigen. Wir hoffen, dass unser Buch hier zu einem neuen Denken beitragen kann. Nicht nur bei Architekten, sondern auch bei denen, die Entscheidungen treffen: Politikern, Auftraggebern und der Bauindustrie.

Christoph Grafe ist Architekt und Professor für Architekturgeschichte und -theorie an der Universität Wuppertal. Von 2011 bis 2017 war er Direktor des Flanders Architecture Institute in Antwerpen. Gastprofessuren im internationale Master adaptive re-use an der Universität Hasselt (Belgien) und am Politecnico di Milano. Sein Buch »People’s Palaces – Architecture, Culture and Democracy in post-war Western Europe« wurde 2014 veröffentlicht. Mitglied des Redaktionskreises des Journal of Architecture (RIBA) und des Beirats des Baukunstarchivs Nordrhein-Westfalen. Herausgeber von OASE und Eselsohren. Im Jahr 2015 als Interims-Stadtbaumeister (mit Bob van Reeth) in Antwerpen tätig.

Tim Rieniets ist Architekt und Professor für Stadt- und Raumentwicklung an der Leibniz Universität Hannover. Von 2013 bis 2018 war Tim Rieniets Geschäftsführer von StadtBauKultur NRW und hat sich in dieser Funktion intensiv mit zeitgenössischen Formen des Bauens im Bestand beschäftigt. Gastprofessuren an der TU München und als Dozent an der ETH Zürich. Herausgeber von u. a. »City of Collision – Jerusalem and the Principles of Conflict Urbanism« (Birkhäuser, 2006), »Atlas der schrumpfenden Städte« (Hatje Cantz, 2006), »Die Stadt als Ressource« (Jovis, 2015). Er kuratierte u. a. die Internationale Architekture Biennale Rotterdam (Rotterdam 2009/10), City of Collision (Istanbul 2010) und Urban Incubator: Belgrade (Belgrad, 2013/14).