Den Einkauf gibt es nicht mehr

Christian Feilmeier, Managing Director rpc – The Retail Performance Company – über die Stadt der Zukunft, individuelle Mobilität und Shopping mit digitalen Assistenten.

Herr Feilmeier, Sie haben drei verschiedene Szenarien zur Mobilität in der Stadt ab dem Jahr 2030 entwickelt. Haben wir dann endlich die Smart City, von der alle schwärmen?
Das wird sich zeigen, wir sind auf jeden Fall auf dem Weg dorthin. In unseren Szenarien beschreiben wir einige von vielen möglichen Zukunftsbildern – es könnte aber auch ganz anders ausgehen. Mit zunehmendem Zeitabstand wächst auch die Unschärfe. Denn Zukunft funktioniert nicht als reine Extrapolation heutiger Träume und Ängste, Statistiken und Wachstumsraten; Zukunft entsteht ebenso durch Brüche und Verwerfungen, Game-Changer und Disruptionen. Die meisten Veränderungen vollziehen sich schleichend, direkt vor unseren Augen, bis ein Kippmoment erreicht ist und das einst Avantgardistische Standard wird. Wer sich für morgen interessiert, sollte daher die Augen offenhalten.

Augenblicklich ersticken wir in immer neuen Lieferservices. Wie steht es mit der letzten Meile zum Verbraucher, sehen Sie da neue Konzepte?
Die Zeit der analogen Häuser, der statischen Immobilien, geht zu Ende. Digitalisierung heißt dann auch mehr Service. Schon heute gibt es Häuser, deren Post-Box selbstständig über eingegangene Lieferungen informiert – während Pakete dort automatisch abgeholt werden. Die letzte Meile zum Verbraucher wird Teil eines umfassenden Wohnkonzepts, das den Nutzern möglichst viel abnehmen möchte. Der Concierge ist digital und vernetzt mit der AI im Mobilgerät.

Umfassender Service ist der Schlüssel für die digitale Transformation. Die Stadt von morgen ist Teil einer Daten-Infrastruktur, die viel über die Wünsche und Vorlieben ihrer Bewohner/User weiß und ganz selbstverständlich umsetzt.

Was heute bestenfalls in China der Fall ist – vollständige Gesichtskontrolle (Face Recognition) und automatische Zugangsbeschränkungen zu Büros und Einrichtungen – dürfte sich Schritt für Schritt auch in anderen Metropolen der Welt durchsetzen. Schon heute gewähren trotz informationeller Selbstbestimmung viele Nutzer Zugang zu ihren persönlichen Daten, weil sie einen (vermeintlichen) Vorteil davon haben: passgenaue Services.

Sie beschäftigen sich schon lange mit der Mobilität in der Stadt. Ihr Blick für 2030?
Mobilität in der Stadt ist im Wandel. Verschärfte Abgasnormen machen Verbrenner unattraktiv. Noch ist nicht entschieden, welches System sich durchsetzt. Wasserstoffantriebe gelten als vielversprechend, und E-Antriebe werden breit genutzt. Es konkurrieren verschiedenste Gesamt-Mobilitäts-Anbieter, die aus einem Baukasten verschiedenster Verkehrsmittel die nach Zeitaufwand und Geldbeutel passgenaue Kombination zusammenstellen: vom persönlichen E-Auto über Leih-Angebote für E-Roller, E-Bikes und E-Cars bis hin zu Ride-Sharing. Zentrale Park-Hubs dienen zugleich als Leihstationen für Scooter, Bikes und Boards. Mikro-Mobilität und Autoverkehr sind keine Konkurrenten mehr, sondern ergänzende Konzepte. Dazu kommen gesponserte Kleinbusse, die Ride-Sharing und Fun-Cruising, Transport und Party verbinden. Gemeinsam in die Stadt und nach Hause, das ist gerade angesagt.

Ohne Navigationsgeräte finden sich viele Menschen nicht mehr zurecht. Jetzt kommt auch noch Indoor-Navigation.
Der nächste, logische Schritt ist, flächendeckende Indoor-Navigation zu handverlesenen Angeboten mit einem je individuellen Preis – allgemeine Preisauszeichnungen sind verschwunden. Die möglichst genaue Navigation durch Retail-Landschaften wird die große Design-Herausforderung für Nutzeroberflächen und auditive Interaktion. Sprachassistenten wie Alexa, Cortona, Google Assistant, Siri und Co. werden für viele Menschen die Hauptadressaten für Informationen und tägliche Interaktion. Sie sind personalisierte Shopping-Assistenten, die eine Vorauswahl nach Vorlieben treffen.

Wie werden wir 2030 shoppen?
Den Einkauf gibt es nicht mehr. Shopping ist ein spontanes Erlebnis, möglichst sofort mit Freunden per Live-Stream geteilt. Standard-Käufe hingegen werden als monatliche Einkaufslisten automatisch abgearbeitet und geliefert – als Abo-Flatrate.

Wer in die Stadt fährt und tatsächlich einen physischen Laden betritt, sucht das Erlebnis, möchte in inszenierten Markenwelten eintauchen aber auch echte Menschen erleben, sucht persönliche Ansprache und besondere Aktionen (Musik, Umtrunk, Party) mit Gleichgesinnten. Materialien, Haptik und Geruch spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle für das Shoppingerlebnis, das live auf sozialen Medien geteilt wird.
Im Handel entwickeln sich Mischformen, die Zahl der Flagship-Stores, die nur noch beraten und nichts mehr verkaufen, wächst, Convenience-Produkte (Drogeriewaren, Lebensmittel) werden mehr und mehr aus dem Stadtraum verschwinden, wenn sie nicht eigens inszeniert (Markt) werden. Freiwerdende Filialen werden zu Packstationen und Logistik-Hubs.

Ändert Corona etwas an Ihrer Prognose?
Wir erleben gerade eine zwangsbeschleunigte Digitalisierung aus der schlichten Not heraus, den Entfall der physischen Touchpoints zumindest teilweise zu kompensieren. Marktteilnehmer haben nicht mehr die Wahl zwischen online oder offline, sondern nur noch zwischen online oder gar nicht.
Zudem gewinnt durch die intensive und teils verstörende Covid-19 Erfahrung auch die individuelle Mobilität als geschützter Raum eine ganz neue Komponente. Nicht nur Schutz der Privatsphäre vor Lärm- und anderen Belästigungen, sondern auch Infektionsschutz. Das Konzept des Automobils, das dies am besten liefern kann, könnte dadurch einen unerwarteten Schub bekommen, vor allem, wenn es mit einem zeitgemäßen Antrieb für den urbanen Raum ausgestattet ist.