Ordnung im Recycling-Dschungel

Hannes Bäuerle, Gründer der Raumprobe, lebt in einem alten Fachwerkhaus. Der Gestalter hat zugleich ein Faible für High-Tech-Produkte. Was sind nun wirklich nachhaltige Materialien?

Hannes Bäuerle, Gründer der Raumprobe, raumprobe.com

Wie viele Materialien kommen geschätzt jedes Jahr neu auf den Markt?

Das hängt von der Definition von „neu“ ab. Einerseits ist alles entdeckt. Auf der anderen Seite kommen durch die Individualisierung inzwischen minütlich neue hinzu. Was aber ist ein neues Material? Was wirkliche Materialinnovationen angeht, die über das Optische hinausgehen, sind es gar nicht so viele. Lassen wir es 50 echte Materialinnovationen alle zwei Jahre sein.

Und durchsetzen werden sich davon …

diejenigen, die eine qualitativ hochwertige Ausführung und langfristige Performanz bieten. Und da kann man nicht einfach sagen Kunststoff sei schlechter als Holz. Es ist etwas komplexer.

Nachhaltigkeit ist das große Thema unserer Zeit. Viele fordern bereits eine echte Kreislaufwirtschaft. Das betrifft vor allem Materialien. Müssen wir nun all die Verbundstoffe und Material-Innovationen der letzten zehn Jahre über Bord werfen und uns eingestehen, dass dies der falsche Weg war?

Mit Sicherheit nicht alles. Es gibt genügend Materialien, die bleiben werden. Erst letzte Woche hatten wir eine spannende Umfrage. Holzbau besetzt nun ganz klar die erste Position, Beton ist hingegen auf den vorletzten Platz gefallen. Da muss viel Forschung passieren – vor allem, wenn wir bedenken, wie viel Beton wir eingesetzt haben. Das große Thema heißt nun Recycling-Beton. Es darf von einem Abbruchgebäude nichts mehr auf der Deponie landen. Nur so schaffen wir es, den Kreislauf wirtschaftlich zu gestalten. Deshalb ist Beton ein sehr gutes Beispiel, dass längst nicht alles über Bord geworfen werden muss, wenn wir von Kreislaufwirtschaft reden.

Im ersten Moment denkt man, Beton zu trennen ist doch ein wahnsinniger Aufwand.

Der Stahlpreis geht durch die Decke. Entsprechend lohnt es sich, den Stahl rauszuholen, trotz des Aufwands. Wenn wir jetzt noch sagen, es kostet deutlich höhere Gebühren, Beton zu deponieren, lohnt sich das Recycling und wir fangen an, die Energiebilanz ehrlich zu rechnen. Bislang wird viel schöngerechnet. Nochmals: Ich glaube ich nicht, dass wir alles über Bord werfen müssen, wir müssen nur anders planen, anders konstruieren …

… Gebäude variabler denken.

Absolut. Ich denke an große, stützenfreie Hallen. Ob wir da nun Wohnungen einbauen, Hotels oder Büros – ist fast egal. Nur die Tragstruktur muss stehenbleiben. Wir müssen nicht alles neu erfinden.

Und die Materialien?

Mit Sicherheit gibt es Materialien, bei denen wir uns in zehn Jahren fragen, warum wir sie eingesetzt haben. Damals haben sie fast nichts gekostet. Das ändert sich, wenn wir sie recyceln müssen.

Sie werden auf einmal vielfach teurer …

… als sie im Einkauf schienen. Wir sollten daher endlich eine Positivliste erstellen.

Da denken viele an Holz. Und andere Materialien? Was ist Deine Hitliste?

Ich selbst bin in Naturmaterialien zu Hause, angefangen bei der Kleidung bis hin zu einem Haus aus Fachwerk und Lehm. Wie aber steht es mit Kunststoff? Es gibt viele Kunststoffe, bis hin zu PVC, die sich extrem gut und mehr oder weniger unendlich oft recyceln lassen. Wenn die Konstruktionen so ausgelegt sind, dass wir beispielsweise den Boden wieder rauskriegen. Denn das eigentliche Thema bei Sandwich-Materialien ist die Verbindung der Materialien.

Wenn sie verklebt wurden, …

… haben wir ein Problem. Wir müssen sie trennen können. So sehr ich ein Faible für Naturstoffe habe, so sehr mag ich High-Tech Materialien. Eben bin ich auf zwei Unternehmen gestoßen, die CFK-Recycling-Prozesse etablieren und es jetzt schon schaffen, Abfälle von Windkraftanlagen bis hin zu Karosserien zurückzunehmen. Das ist ein wertvoller Rohstoff, wenn wir es schaffen, alles sauber zu dokumentieren, zu trennen und in den Kreislauf zurückzuführen.

Stichwort Dokumentation: Rezepturen können sich von Charge zu Charge ändern, von Hersteller zu Hersteller. Wird es nicht an der Zeit, dass wir in Richtung Transparenz gehen, was die Inhaltsstoffe angeht?

Das lässt sich gar nicht vermeiden. Ich selbst will ganz genau wissen, was in den Produkten steckt. Nehmen wir mal ein anderes Beispiel: Transparenz, was die Preise anbelangt, die wir auf unserer Datenbank im geschlossenen Pool hinterlegen. Das war noch vor vier, fünf Jahren undenkbar. Da wollte sich keiner in die Karten schauen lassen. Der reine Preis ist aber nicht mehr das Verkaufsargument. Ähnlich sehe ich es bei Rezepturen. Es gibt mit Sicherheit Rezepturen, bei denen Geheimhaltung gegenüber den Marktbegleitern sinnvoll ist. Aber es gibt jetzt schon Ansätze, das über unabhängige Institute zu dokumentieren.

Ihr habt selbst eine beachtliche Datenbank aufgebaut. Wenn man dort nach Nachhaltigkeit sucht, kriegt man zunächst richtig viele, manche würden sagen: nicht genug Treffer. Wie schafft ihr Ordnung im Recycling-Dschungel?

Wenn wir mit Kollegen sprechen und fragen, was wir bei der Datenbank verbessern sollen, kommt in den meisten Fällen der Wunsch nach einem Knopf „ökologisch ja-nein“. Daraus ziehe ich folgenden Schluss: Viele stehen noch ganz am Anfang. Sobald sie nämlich tiefer einsteigen, wird klar, dass es keinen Material-Filter namens „ökologisch ja-nein“ geben kann. Es kommt immer auf den Einsatz an. Ein Kunststoff-Bodenbelag, der 30 Jahre hält, kann ökologisch wertvoller sein als ein Ziegenhaar-Teppich, den die Nutzer alle zwei Jahre austauschen müssen.

Und wie bewertet Ihr das?

Das ist bei uns aktuell eine große Baustelle. Bei uns treffen tagtäglich Produkte ein, bei denen wir fast in die Molekülstruktur gehen müssten, um Endgültiges zu sagen. Bei der Frage „ökologisch ja-nein“ hinterlegen wir die Produkte mit weiteren Werten, um zu entscheiden, ob sie biologisch abbaubar sind. Beim Punkt Recycling versuchen wir rauszukriegen, wie hoch der Recycling-Anteil genau ist. Zwischen 0,2 Prozent zugesteuert oder aus 98 Prozent hergestellt, besteht ein großer Unterschied.

Augenblicklich bietet Ihr folgende Filter an: biologisch abbaubar (466), nachwachsend (988), Recyclinganteil (508), sortenrein (565), Öko-Zertifizierungen (1111) sowie Ökobilanz (87).

Wir versuchen wirklich zu zeigen, was es an Strategien und Ansätzen gibt und bessern bei den Filter-Kriterien ständig nach. Bis zum Sommer wollen wir schließlich die umfangreichste Datenbank in diesem Bereich sein.

Wird es nicht Zeit, eine verbindliche Klassifikation zu schaffen, eine Vergleichsbasis, um nicht dauernd Äpfel mit Beton zu vergleichen?

Meines Erachtens: absolut. Es braucht mehr Fokus darauf, denn dazu kommt noch die gesamte Lebenszyklus-Betrachtung. Es ist ein komplexes Thema, ein politisches dazu und ein eminent wirtschaftliches. Wem eine solche Klassifizierung gelingt, dem wird es die nächsten Jahre nicht langweilig.

Das wäre eine neue DIN mit entsprechenden Wettbewerbsvorteilen für diejenigen, die die Standards vorgeben.

Genau.

Fassen wir zusammen: Du rätst, in bleibende Werte zu investieren, also keinesfalls beim Material und seinen Qualitäten zu sparen. Zudem forderst Du eine nutzungsoffene Planung und ein System, das Stoffe dokumentiert und leicht trennbar macht. Was heißt das fürs Bauen der Zukunft?

Das Material-Qualitäts-Thema lässt sich eins zu eins auf den Wert der gebauten Architektur übertragen. Materialqualität muss sich in die Architektur-Qualität übersetzen. Wer ein qualitativ hochwertiges Gebäude baut, reißt es nicht nach 15 Jahren wieder ab. Was 100 Jahre steht, ist es auf jeden Fall besser als eine hochgedämmte Kiste, die wir nach 15 Jahren wieder umbauen. Materialien sind so wertvoll, dass sie in 20 Jahren mindestens den Wert von heute erhalten, wenn nicht deutlich teurer sind. Das gilt für das Kupferdach wie den Wasserhahn. Und bald auch für Beton und andere Stoffe.

Lesen Sie hier den Artikel »Natürliche Transformation«
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